ZÜRICH: POLIUTO am 20.05. 2012 (Werner Häußner)
Etwas vollkommen Neues würde er machen, und das Schicksal der Christen inspiriere ihn, schrieb der berühmte Tenor Gilbert Duprez über Gaetano Donizetti. Der Komponist arbeitete gerade an seiner neuesten Oper „Poliuto“, nach einer Tragödie von Pierre Corneille, einem Märtyrerdrama aus der Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Decius. Das „Neue“ an der Oper galt freilich nur für Neapel: In Paris hatten bereits Jacques Fromental Halévy mit „Die Jüdin“ und Giacomo Meyerbeer mit „Die Hugenotten“ das Thema Religion und Gesellschaft behandelt; auch Rossinis alttestamentliche Oper „Mosé“ griff die Konfrontation einer verblendeten Machtpolitik mit einer konsequent handelnden, religiös motivierten Gruppe auf. Doch Duprez und Donizetti, die gemeinsam mit Salvatore Cammarano, dem Librettisten, die Idee einer modernen großen Oper entwickelt hatten, ging es Anno 1838 um eine Antwort auf die französische „Grand Opéra“ aus dem Geist des italienischen „Melodramma“.
Das Trio, mit dem ehrgeizigen Donizetti an der Spitze, hat sich ungewöhnlich intensiv auf das Drama der armenischen Christen im römischen Reich eingelassen. Verfolgung und Unterdrückung haben in „Poliuto“ nicht nur die Funktion, die handelnden Personen in einer schicksalsmächtigen Konstellation zu gruppieren. Das Bekenntnis zum Christentum, das dem Staatsbeamten Poliuto (bei Corneille: Polyeucte) zum Verhängnis wird, ist kein Beiwerk einer konventionellen Liebesgeschichte nach Art der alten italienischen romantischen Oper, sondern konstituierendes Element der gesamten Dramaturgie.
Aufgebrochen ist auch das Gut-Böse-Schema, dem die italienische Oper bis hin zu Verdis Jago so viele baritonale Schurken beschert hat. Severo, der blutrünstige Verfolger der Christen, ist ein gebrochener Mann, als er erkennen muss, dass seine frühere Geliebte Paolina in fälschlicher Gewissheit, ihren Geliebten auf dem Schlachtfeld verloren zu haben, dem Drängen ihres Vaters nachgegeben und Poliuto geheiratet hat. Und Paolina ist nicht nur hin- und hergerissen zwischen der ehelichen Treue zu Poliuto und ihrer wiedererwachten Leidenschaft. Sie sieht sich auch mit dem Übertritt ihres Mannes zum Christentum konfrontiert – einem todeswürdigen Verbrechen.
Die unerbittlich ablaufende Maschinerie der Verfolgung und das Liebesdrama sind in Donizettis Versuch, für die italienische Bühne eine Adaption der modernen französischen Oper zu schaffen, gleichwertig miteinander verbunden. Die Personen sind nicht nur Spielfiguren auf dem Feld der politischen Konstellationen und ihnen wehrlos ausgeliefert; sie entscheiden sich selbst und setzen dem totalitären Zugriff der Macht selbstbestimmte Grenzen. Poliuto, der sich auch vom sicheren Tod nicht von seinem Glauben abbringen lässt; Paolina, die sich aus vollem Herzen zu einem Gott bekennt, der die Liebe zu den Feinden statt den Hass auf alle Abweichler predigt: Sie stehen für Glaubens- oder Prinzipientreue ohne Fanatismus, aber mindestens ebenso sehr für die Unverfügbarkeit der letzten, existenziellen Entscheidung. „Die Welt verlassend, stirbt der Gerechte nicht. Im Himmel wird er wiedergeboren zu einem besseren Leben“, begründet Poliuto seine Kraft zum Widerstand. Für Paolina der ausschlaggebende Grund, sich den Christen anzuschließen.
Cammaranos Libretto zeigt sich überhaupt historisch wie theologisch sehr bewusst gestaltet, hütet sich aber, die Figuren zu Heiligen hochzustilisieren: Dass ihn nicht immer „göttliches“ Feuer, sondern die bloße sexuelle Leidenschaft antreibt, ist Poliuto wohl bewusst. Die Menschen bleiben menschlich: Das ist die überzeugende Stärke von Donizettis Oper.
Die Schweizer Erstaufführung dieser wichtigen Oper Donizettis – und die erste im deutschen Sprachraum seit langem – ist dem scheidenden Zürcher Opernintendanten Alexander Pereira zu verdanken. Sein Weggang ist ein herber Verlust. Unter seiner Ägide hat das Opernhaus in der Schweizer Finanzmetropole mit einem vielfältigen Spielplan und mit qualitätsvollen Aufführungen des vernachlässigten Belcanto-Repertoires und französischer Raritäten Musiktheater-Enthusiasten aus ganz Europa angezogen. Unter dem neuen Chef Andreas Homoki aus Berlin scheint sich Zürich – von ehrgeizigen Uraufführungen abgesehen – dem international üblichen Gebräu aus überall gespielten Repertoirewerken anzupassen. So legt es jedenfalls der Spielplan der Saison 2012/13 nahe.
Hohes musikalisches Niveau und eine Interpretation am Puls der Gegenwart: Das war wohl auch die Intention Pereiras, als er dem hochbetagten Nello Santi und dem italienischen Regie-Newcomer Damiano Michieletto die „Poliuto“-Premiere anvertraute. Santi ist der Zürcher Oper seit mehr als einem halben Jahrhundert verbunden und hat für unvergessliche Abende gesorgt. Michieletto ist bisher vor allem in Italien hoch gelobt worden – was bei dem Regiestil im einstigen Heimatland der Oper nicht viel bedeutet. Doch seine Inszenierung von Jaromir Weinbergers „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ beim irischen Wexford Opera Festival empfahl sich durch das Durchbrechen der folkloristischen Oberfläche hin zum symbolistisch-expressionistischen Drama.
In Zürich ist bei „Poliuto“ nicht mehr als der Versuch herausgekommen, mit den mittlerweile abgenutzten Mitteln und den mehr Überdruss als Aufschluss erzeugenden Bildern des Regietheaters Donizettis Oper für die Gegenwart zu erschließen. Den Einzelnen in der Masse aufgehen zu lassen, ist eine an sich tragfähige Leitidee – schon suggeriert durch das Titelbild des ansonsten auf Praktikanten-Niveau erstellten Programmhefts. Puppen in grünen Overalls stehen für Menschen, denen man Seele und Individualität raubt: Im ersten Akt liegen sie verkrümmt auf der Bühne herum, im zweiten werden sie auf die Ränge einer Tribüne zwischen „lebende“ Menschen gesetzt, im dritten von einer Gruppe, die Ärzte wie Techniker sein könnten, aus Einzelteilen zusammengesetzt. Die Verdinglichung des Menschen, gegen die sich die Christen im Stück wehren, findet ein überzeugendes Bild (Bühne: Paolo Fantin).
Severo, der Verfolger, ist ein vom Krieg Gezeichneter: Traumatisiert von Gewalt, stellt er sich in ihren Dienst. Zu ihrer Versammlung huschen die Christen durch düstere Maschinensäle in eine Art Umkleide mit einer endlosen Wand metallener Spinde. Aber dass diese Spinde plötzlich spazierenfahren und sich vereinzeln, ist schon eine der hilflosen Regie-Ideen, die zu nichts führen als zur Bewegung um ihrer selbst willen. Vollends abwegig dann die Spielchen mit den Wasserkanistern. Aus der Vorbereitung auf die Taufe wird ein allgemeines Wasserritual, mit dem Michieletto nicht einmal sein eigenes Ziel erreicht, Wasser als reinigendes und lebensspendendes Element darzustellen. Das Finale des zweiten Akts eröffnet wieder ein in seiner brutalen Technizität beklemmendes Bild: im Gegenlicht fährt die Tribüne nach vorne, auf der die entseelte Masse der Begrüßungsshow für Severo folgen soll. Auf der Bühne bleibt es jedoch eher beim Rampentheater – und im dritten Akt zwischen Plastikplanen bei beziehungslosem aneinander-Vorbeisingen.
Vom Singen lebt Donizettis Oper zu einem Gutteil. Gilbert Duprez, der Mitinitiator des „Poliuto“ und für die Hauptpartie ausersehen, war einer der führenden Tenöre seiner Zeit. Die Zürcher Besetzung enttäuschte auf ganzer Linie: Der Tenor Massimiliano Pisapia hätte vor einer Generation wohl kaum einen Fuß auf Bühnen jenseits tiefster italienischer Provinz gesetzt. Er kämpft sich mit kraftmeierischem Singen durch die Partie, mit spröden, schlecht sitzenden, vibratoreichen Tönen, die sofort dünn verblassen, wenn sie das Forte unterschreiten sollen. Bögen und Übergänge? Ein ebenmäßiges Messa di Voce? Oder gar Gestaltung durch Klangfärbung? Die Fehlanzeige ist nahezu komplett. Auch Fiorenza Cedolins, von den Anhängern eines krude-veristischen Klangbilds gefeiert, scheint einen Tremulanten in der Magengrube zu tragen. Mit dem versetzt sie die Töne, die sie mit Kraft und oft zu weit hinten bildet, in beständig lästige Schwingung.
Die Finesse und Flexibilität des Donizetti-Baritons geht auch Massimo Cavalletti ab, doch immerhin singt er die Partie des Severo auf Linie und mit einer spannend-bewussten Phrasierung. So gelingt ihm am ehesten, seiner Figur ein musikalisches Charakterbild aufzuprägen: Ein Mann, zerrissen zwischen Machtwillen, gewaltbereitem Fanatismus und tief verletzter Liebe. Riccardo Zanellato darf wieder einmal Sonnenbrille tragen und sich mafiös gebärden – obwohl die Drahtzieher, die eine aufgepeitschte Masse für ihre Machtzwecke instrumentalisieren, heute anders aussehen. Stimmlich bleibt er der Rolle des Jupiterpriesters Callistene nichts schuldig. Und auch Jan Rusko als Exponent der Christen Nearco zeigt eine angemessene, raue, aber gut geführte Stimme.
Der Chor der Zürcher Oper, der schon in der – für die Pariser Umarbeitung des „Poliuto“ in „Les Martyrs“ komponierten – Ouvertüre seinen ersten Auftritt hat, zeigte sich nicht ganz auf üblicher Höhe, doch unsaubere Einsätze und unerfüllte Bögen waren im grandiosen Finale des zweiten Akts wie weggezaubert. Nello Santi leitete die belcanto-erfahrenenen Zürcher Musiker mit sicherem Kapellmeister-Instinkt durch die Partitur, höchst aufmerksam an Schlüsselstellen des musikalischen Ablaufs, aber auch hin und wieder zu flüchtig über Momente weg, deren Reiz sich erst bei sorgsam modellierter Wiedergabe erschließt.
Immerhin hat die Zürcher Aufführung des „Poliuto“ erwiesen, dass es sich lohnt, sich mit dem Märtyrerdrama der Christen zu befassen: Donizetti schuf menschlich anrührende Bühnencharaktere und ein politisch-gesellschaftliches Panorama, das unter dem Zeichen der Christenverfolgung in vielen Ländern nichts an Brisanz eingebüßt hat. Bleibt zu hoffen, dass der Zürcher Impuls nicht ungehört verhallt und „Poliuto“ oder – vielleicht besser noch – die französische Version „Les Martyrs“ den Weg auf die Bühne wiederfindet.
Werner Häußner