Foto: TT-Fotografie Toni Suter/Tanja Dorendorf
Zürich: MANON (Jules Massenet) – Dernière am 15.5.2019
Qui ne fait pas de rêve?…
Die fünfaktige Oper Jules Massenets nach Abbé Prévost‘s Roman gleichen Titels ist im Gegensatz zu Puccinis Verismo-Schocker „Manon Lescaut“ eine Oper typisch französischen Zuschnitts. Das ist mal die traditionelle fünfaktige Form mit allen Elementen der Grand Opéra (Chor, Ballett, grosse Ensembles), aber Massenet dringt auch zum psychologischen Kern der Geschichte vor. Er zeichnet das Bild der unreifen, wankelmütigen Manon ebenso wie das des ebenso unreifen Chevalier des Grieux, die beide zwar ineinander verliebt sind, diese Liebe aber nicht „aushalten“ können. Die grossen Arien werden bei Massenet zum innersten Abbild der sich singend äussernden Person. „Adieu, notre petite table“ spiegelt auf schonungslose Weise das schlechte Gewissen Manons wider, wenn sie sich ein paar Minuten später für den Luxus entscheidet und somit Des Grieux verrät. Sein „Ah! Fuyez, douce image“ zeigt zwar seine Entschlossenheit, in den Orden einzutreten, aber seine Flucht vor sich selbst und auch seine Schwäche, bei nächster Gelegenheit wieder Manon zu verfallen. So werden in dieser meisterhaften Oper die beiden Protagonisten, die in den Strudel der Ereignisse geraten, von diesen fortgetragen und quasi fremd-bestimmt.
Der Regisseur Floris Visser hat eine leicht stilisierte, aber doch realistische Weise gewählt, die Handlung umzusetzen. Er versetzt die Story vom tändelnden Rokoko in die Belle Époque, als sich eine „heile“ Welt anschickte, aus den Fugen zu geraten und auf den ersten Weltkrieg zusteuerte. Ein Tanz auf dem Vulkan also. Die Gesellschaft ist verdorben und die Herrschenden sind korrupt. Ohne irgendwie zu übertreiben, gelingt es dem Regisseur Floris Visser mit dem Leading-Team (Dieuke van Reij: Bühnenbild und Kostüme, Alex Brok: Lichtgestaltung), diese besondere Atmosphäre bildhaft werden zu lassen.
Dazu braucht man natürlich auch ein Protagonisten-Paar, das dieses Versprechen einlösen kann. Es ist die bildhübsche Elsa Dreisig, die in allen Stadien der Manon glaubhaft ist: zuerst als sechszehnjähriges Mädchen, dann als Dame der Gesellschaft, später die Femme fatale im Spielsalon und am Schluss ein „Häufchen Elend“. Die Sängerin verfügt über ein wirklich idiomatisches Timbre, d.h. immer schlank im Klang, gut durchgebildet, eine sichere Höhe immerhin bis zum cis`, eine perfekte Diktion, eine natürliche Musikalität – was will man mehr. Als ihr Partner bringt Piotr Beczała, obwohl eigentlich fast über dieses Fach hinaus, mit seiner wunderschön timbrierten Stimme von besonderem Schmelz alles in die Partie ein, was da eingefordert wird: Lyrismen, dramatische Zuspitzung, Beherrschung der voix mixte, herrliche Kopf-Pianotöne und ein der Rolle entsprechend edles Aussehen. Das Paar wirkte absolut glaubwürdig.
Als Manons Bruder Lescaut war Yuriy Yurchuk ebenso glaubhaft, hier aber nun als Vertreter einer verlogenen Gesellschaft. Der Sänger verfügt über einen kräftigen Bariton, gerade im richtigen Mass für den Soldaten. Auch Alastair Miles als Vater Des Grieux war mit dem an den Vater Germont erinnernden, eines mit Sturheit Besessenen gut besetzt. Sehr pointiert charakterisierte Éric Huchet den heruntergekommenen, aber immerhin ehrlichen Guillot de Morfontaine. Sehr gut auch das „Damen-Trio“ mit Yuliia Zasimova (Poussette), Natalia Tanasii (Javotte) und Deniz Uzun (Rosette). In weiteren Partien alle überzeugend: Omer Kobiljak und Jamez McCorkle als Gardisten, Marc Scoffoni (Brétigny) und viele andere Ensemble-Mitglieder. Sogar eine Ballett-Einlage gab’s (Pim Veulings: Choreographie) – wie es sich für eine französische Opéra gebührt – und Chor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) und die Philharmonia spielten mit Engagement unter dem Dirigat von Marco Armiliato auf. Ein ungetrübtes Vergnügen auf bestem Niveau!
Schade, wenn das wirklich die letzte Aufführung dieser schönen, „normalen“ Inszenierung von Massenets „Manon“ am Opernhaus Zürich gewesen sein soll.
John H. Mueller