„Ich weigere mich, in Diktaturen aufzutreten“ (Marie von Baumbach sprach mit dem Dirigenten)
Zubin Mehta. Foto: Wilfried Hösl
Vom Bombay der 30er und 40er Jahre zu einem der berühmtesten Dirigenten der westlichen Welt: Zubin Mehta hat mit allen internationalen Spitzenorchestern gearbeitet, darunter die Wiener und Berliner Philharmoniker, das New York Philharmonic Orchestra oder die Münchner Philharmoniker. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit den Opernhäusern von Florenz und Valencia sowie mit dem Israel Philharmonic Orchestra, dem er seit einem halben Jahrhundert verbunden ist. An der Bayerischen Staatsoper dirigiert er z.Zt. Puccinis letzte Oper „Turandot. Im Interview spricht er über Mörderinnen, Snobs und Adorno und warum er nicht in Venezuela auftreten würde.
Herr Mehta, über was wollen wir sprechen? Über China, Serienmörderinnen oder über das Küssen?
Wie bitte?
Also, sprechen wir über den Kuss, der aus der Mörderin Turandot eine liebende Frau macht…
Ja, aber dieser Kuss kommt in unserer Produktion gar nicht mehr vor. Wir hören an der Stelle auf, an der Giacomo Puccini gestorben ist.
Das ist im 3. Akt, kurz nach dem Selbstmord der Sklavin Liù. Damit wird nicht mehr gezeigt, dass sich Turandot am Ende wandelt…
Als echte Frau ist sie im 2. Akt nach der großen Rätselszene zu sehen, wenn sie weint und den Vater anfleht, den Prinzen Calaf nicht heiraten zu müssen. Im dritten Akt gibt es dann diesen magischen Moment, wenn sie Liù nach dem Namen des unbekannten Prinzen fragt. Wenn diese beiden Frauen nacheinander ganz lyrisch singen, wirkt es ganz kurz so, als wären sie „Schwestern“, musikalisch meine ich. Eine wunderbare Stelle.
Trotzdem lässt sie Liù foltern. Sind Frauen brutaler als Männer?
Frauen können genauso brutal sein, wie Männer, aber sie denken vorher viel mehr nach und brauchen gute Gründe. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Männer immer Eroberer waren, denken Sie an Dschingis Khan oder die Wikinger, und erobern konnten sie nur mit Brutalität. Aber vielleicht gab es auch einen ganz brutalen Amazonen-Stamm. (lacht)
Was reizt Männer an dieser Frau, dass sie für sie ihr Leben auf’s Spiel setzen?
Früher übten Herrscher eine noch stärkere Faszination aus als heute. Die Bauern in Russand haben den Zar nie gesehen. Auch die Chinesen kennen diese Prinzessin nur in ihrer Fantasie. Mich persönlich reizt an ihr überhaupt nichts. Ich habe keine Sympathie für sie.
Sind Sie jemals einer Mörderin persönlich begegnet?
Nein, auch einen Mörder habe ich nie gekannt. Ich weiß auch nicht, wie ich mich verhalten würde. In den Opern, die ich dirigiere, sind natürlich fast immer Mörder. Ein Dirigent darf sich nicht scheuen, diese geniale Musik mit der nötigen Brutalität aufzuführen. Ein Gustav Mahler hat zwar keine Oper geschrieben, aber auch er breitet seine ganze Seele vor uns aus, und manchmal ist auch Mahler dadurch mörderisch vulgär.
Maria Callas soll gesagt haben „Turandot mordet die Prinzen und Turandot mordet die Soprane“…
Maria Callas war nicht ideal für die Partie. Die Rolle ist die italienische Version von Wagners Brünnhilde. Wer Brünnhilde singen kann, der singt Turandot morgens beim Frühstück.
Als sie das Werk 1976 an der Mailänder Scala dirigierten, sagte Montserrat Caballé kurzfristig ab. Mit dem Ersatz hätten Sie fast die Zusammenarbeit verweigert, da diese Sopranistin aus Südafrika kam. Würden Sie heute immer noch einen Sänger wegen seiner Nationalität ablehnen?
Nein, das würde ich nicht. Aber damals war die Situation der Inder in Südafrika furchtbar, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber es gibt Nationen, in denen ich nicht auftrete, Venezuela zum Beispiel. Ich bin auch nicht während der Militärdiktatur in Griechenland aufgetreten und nur ein einziges Mal in der DDR, weil uns die Regierung der USA mit dem New York Philharmonic Orchestra gezwungen hat. Die wollten die politische Situation verbessern.
Stars wie Mariah Carey, Beyoncé oder Nelly Furtado schämen sich jetzt für ihre Auftritte für Muammar al-Gaddafi…
Gaddafi hat sicher sehr gut bezahlt. Ich hätte das nicht gemacht. Ich weigere mich, in Diktaturen aufzutreten.
Das New York Philharmonic Orchestra hat 2008 ein viel beachtetes Konzert in Nordkorea gegeben. Ihr Bruder Zarin ist dort Executive Director. Haben Sie darüber im Vorfeld gesprochen?
Bitte, das war deren Entscheidung. Ich hätte das nicht gemacht. Aber die Südkoreaner haben zwei Tage nach dem Auftritt in Nordkorea Lorin Maazel und das Orchester so bejubelt. Vielleicht war es doch gut, da eine Brücke zu bauen.
Welche Beziehung haben Sie als Inder zu China?
Für Inder ist das Verhältnis zu China immer eine Hass-Liebe. Ich bin mit vielen Entscheidungen der chinesischen Regierung nicht einverstanden, aber sie haben dem Volk die Möglichkeit gegeben, zu „atmen“, ganz anders als in Nordkorea. Politisch haben unsere Länder viel durchgemacht, bis heute wird ein Teil von Ost-Kaschmir einfach als China bezeichnet, da haben die Chinesen die Inder 1962 wirklich abgeschlachtet. Aber das musikalische Potential ist unglaublich, und ich musiziere wirklich sehr gerne in China.
Turandot wurde rund 70 Jahre nicht in China gespielt, halten Sie das Stück für politisch?
Nein. Es wurde so vieles in China nicht gespielt. Als ich 1998 mit dem Maggio Musicale aus Florenz die Turandot in der Verbotenen Stadt gemacht habe, waren die Chinesen so stolz, dass sie das geschafft haben, chinesische Kostüme, alle handgemacht, ein chinesischer Regisseur usw. Und damals hat der Staat noch viel strenger kontrolliert. Jetzt spielen sie Turandot überall.
Theodor W. Adorno bezeichnete die Oper als „Bühnenweihfestoperette“…
(lacht) Warum muss man immer Adorno zitieren? In Mitteleuropa kann ich nicht einen einzigen Essay über irgendein Thema lesen, in dem nicht Adorno zitiert wird. Er hat in Los Angeles nur fünf Minuten von mir entfernt gewohnt, aber ich habe ihn natürlich nicht persönlich gekannt, das war vor meiner Zeit dort. Ich hätte sehr gerne mit ihm diskutiert.
Zum Beispiel über den Ausdruck „Bühnenweihfestoperette“?
Puccinis Musik wird von den Snobs als Operette bezeichnet, aber das ist sie nicht. Er hat eine ganz eigene Musiksprache, sehr beeinflusst vom Impressionalismus. In „La fanciulla del West“ sind Passagen bei denen man glaubt, sie wären von Maurice Ravel komponiert worden. Auch die Szene mit den Ministern Ping, Pang, Pong in „Turandot“ ist reiner Impressionismus.
Trotzdem scheint die musikalische Entwicklung Anfang des letzten Jahrhunderts in Italien stehen geblieben zu sein. Vor allem im Vergleich zu Ländern wie Österreich und Deutschland, wo ein Arnold Schönberg arbeitete, eine Salome oder Elektra von Richard Strauss uraufgeführt wurden.
Auch Giacomo Puccini hat eine Entwicklung durchgemacht, wer weiß, was er komponiert hätte, wenn er noch 15 Jahre länger gelebt hätte. Außerdem war Schönberg ein großer Fan von Puccini und umgekehrt. Man tut ihm auch Unrecht, wenn man meint, er sei in seinen Arien nur auf Effekte bedacht. Nach Hits wie „Vissi d’arte“ oder „Nessun dorma“, geht es in der Partitur direkt weiter. Wir unterbrechen heute nur, damit der arme Tenor endlich etwas Applaus bekommt.
Angeblich wollte Puccini für die „Turandot“ gar keinen bombastischen Schluss…
Ich habe oft die Version von Franco Alfano dirigiert, mit der Melodie des „Nessun dorma“ am Ende und dem ganzen Chor. Natürlich muss es heroisch klingen, aber eigentlich habe ich immer dabei gelitten.
Warum haben Sie nie eine Auftragskomposition vergeben?
Ich habe den amerikanischen Komponisten John Corigliano gefragt, ob er einen neuen Schluss schreiben will. Er meinte, er kenne die Oper zu wenig, außerdem hatte er zu viel andere Arbeit.
Wie viele Versionen des letzten Aktes gibt es eigentlich?
Die Version von Steven Mercurio klingt fast genauso wie die bekannte von Alfano. Der Schluss von Luciano Berio ist anders, aber wir machen es jetzt so, wie Arturo Toscanini bei der Uraufführung, wir hören auf.
„Sein Name ist: Liebe!“, singt Turandot am Ende der Alfano-Version. Was ist Ihnen wichtiger, die Musik oder die Liebe?
Liebe ist Musik. Und Musik ist Liebe. Liebe ist alles.
Interview: Marie v. Baumbach