Fotos: Barbara Zeininger
YUVAL SHARON
Regisseur aus Protest!
Im Rucksack trägt Yuval Sharon den voluminösen Klavierauszug zu den „Tri Sestri“ des Peter Eötvös, die er derzeit an der Wiener Staatsoper inszeniert, und er holt auch bei Bedarf eine Art Schulheft hervor, in dem er zahlreiche Überlegungen zu Werk und Inszenierung notiert hat. Das Deutsch des Amerikaners ist hervorragend, hat er es doch schon in seinen frühen Zwanzigern in Berlin gelernt, um Bert Brecht und Richard Wagner in deren Muttersprache begegnen können. Die Belohung: Im Herbst inszeniert er in Karlsruhe „Die Walküre“. Davor aber hofft er noch, das Wiener Publikum für Eötvös im Besonderen und für die moderne Oper im allgemeinen zu gewinnen.
Das Gespräch führte Renate Wagner
Herr Sharon, in den USA gelten Sie zwar als „Face to Watch“, wie die Los Angeles Times Sie nannte, in Europa kennt man Sie noch weniger. Wie kam es zu Ihrem Engagement an die Wiener Staatsoper?
Ich habe in Cleveland mit Franz Welser-Möst „Das schlaue Füchslein“ gemacht, im Konzertsaal, aber eine vollwertige Inszenierung, mit dem Orchester im Vordergrund. Damals fragte er mich, ob ich an der Staatsoper „Die englische Katze“ von Henze inszenieren wollte, und ich habe natürlich gleich mit der Vorbereitung begonnen. Dann ging Franz aus Wien weg, und ich dachte, damit sei auch mein Engagement gestorben. Aber Dominique Meyer rief an und bestätigte es, es handle sich nur um eine andere Oper – die „Drei Schwestern“ von Peter Eötvös.
Haben Sie das Werk, das man ja gut und gern als besonders schwierig bezeichnen kann, gekannt?
Ich habe es live nie gesehen, kenne aber die Aufzeichnung der Uraufführungsinszenierung in Lyon, und ich finde das Werk passt zu mir. Ich bin kein Regisseur, der einfach alles macht – mit Rossini oder Belcanto kann ich beispielsweise gar nichts anfangen, das sollen andere machen. Meine Interessen liegen zwischen alter Musik, Monteverdi muss unbedingt einmal sein, Orfeo und auch seine Madrigale, der Moderne als dem anderen Eckpunkt – und dazwischen Wagner.
(Er zieht den großen Klavierauszug hervor)
Sehen Sie sich das an, für ein Werk von hundert Minuten – eine Doppelseite kann da vielleicht 10 Sekunden dauern, ich bin ununterbrochen am Blättern. Die Orchesterpartituren – und es gibt ja zwei Orchester – sind natürlich auch wichtig. Und ich habe mir den deutschen Text unter den russischen geschrieben, aber vor allem vermittelt die Musik von Peter in jedem Detail ihre Botschaften, die man dann szenisch umsetzen muss.
Ist es eine Hilfe, dass Ihre drei Titelrollensängerinnen Russinnen sind?
Der Rest der Besetzung sind keine Russen und machen ihre Sache trotzdem hervorragend, weil sie einfach gut vorbereitet sind. Ich denke, Opernsänger von heute müssen das gewöhnt sein, sie singen ja auch Janacek auf Tschechisch. Die drei Titelrollensängerinnen sind einfach herrlich, passen für ihre Rollen, als ob sie dafür geschaffen worden wären. So, wie sie da auf der Bühne stehen, könnte ich mir denken, dass Tschechow sich seine „Drei Schwestern“ vorgestellt hat… Für Peter Eötvös war noch wichtig, dass die Rolle der Natascha, die ja eine Außenseiterin in der Familie und wirklich „böse“ ist, von einem Countertenor gesungen wird.
Haben Sie eine Beziehung zu dem Tschechow’schen Original?
Und wie! Als ich noch in Berkeley studiert habe, habe ich in einer Aufführung mitgespielt, allerdings keine Hauptrolle, sondern einen der Soldaten. Das ist 20 Jahre her, aber das Stück ist mir nach wie vor vertraut, und je länger man sich damit beschäftigt, umso mehr Tiefe gewinnt es. Ich habe auch Peters Libretto genau analysiert
(Sharon zieht das Schulheft voll von Notizen und Tabellen hervor),
geschaut, wo er in den drei Szenen Teile aus welchen Akten verwendet hat, bis er mir sagte, ich solle mich mehr mit dem Libretto als dem Stück befassen, und da hat er natürlich recht. Das ist ein Werk für sich, und von dem Original gibt es ja quasi nur Rudimente.
Man kann die „Tri Sestri“ ja in der Eötvös-Fassung szenisch nicht wirklich realistisch angehen?
Nein, darum sind mir ja auch die Laufbänder eingefallen. Das heißt, zu Beginn gibt es die Szene, in der die drei Schwestern traurig über ihr Schicksal nachsinnen… da werden sie einfach schaukeln. Aber danach gibt es Laufbänder, die ununterbrochen in Aktion sind und die Menschen herbeibringen und wieder wegbringen. Und nur die drei Akteure der drei Teile – Irina, Andrei und Mascha – stehen in der Mitte und sind von den anderen umgeben. Das ist als hundert Minuten ununterbrochenes Fließen gedacht, und das erscheint mir als sinnfällige Umsetzung dieses „Erinnerungsstücks“.
Nun sind die „Tri Sestri“, wenn man ihnen zum ersten Mal begegnet, für den Zuschauer vermutlich nicht ganz einfach zu rezipieren – sowohl in der Musiksprache wie in der Dramaturgie. Sind Sie sicher, dass man auf Anhieb begreifen kann, was Sie mit Ihrer Inszenierung sagen wollen?
Man muss nicht immer alles „verstehen“. Ich denke, wenn man bei Menschen Neugierde wecken kann, möglicherweise das Bedürfnis, etwas noch einmal sehen zu wollen, um es besser zu begreifen, dann wäre doch etwas erreicht. Ist es nicht so, dass man immer etwas Neues erleben möchte? Ich vertraue auf das Publikum. Wenn man es herausfordert, wird es mitgehen. Meine Aufgabe als Regisseur ist es, eine Inszenierung so gut aufzubauen, dass das Publikum hineingehen kann, es also nicht von Anfang an mit großem Zirkus zu überfallen, sondern etwas nach und nach zu entwickeln. Wenn alles zu fließen beginnt, werden sich die Zuschauer nach ein paar Minuten fragen: Bleibt das so? Begreifen, dass es so bleibt. Und hoffentlich interessiert mitgehen.
Wie weit darf sich ein Regisseur Ihrer Meinung nach eigentlich von einem Werk entfernen?
Ich fühle mich einem Komponisten verpflichtet, und wenn man ihn, wie hier in Wien, neben sich hat, dann hört man natürlich mit Interesse seine Ideen an. Selbst, wenn sie nicht mit meinen übereinstimmen, möchte ich doch wissen, was er sich vorstellt. Und wenn Peter etwas sehr wichtig ist – dann wird man es machen. Im übrigen sehe ich es als meine Aufgabe an, Werke nicht kleiner zu machen, als sie sind, sondern weit eher größer. Oper ist für mich die Kunstform, bei der man, wie Walter Felsenstein sagte, mit den Augen hört und mit den Ohren sieht, wo man sich spielerisch durch formale Welten bewegen kann. Und im Grunde möchte man etwas schaffen, das es noch nie zuvor gegeben hat…
Herr Sharon, Ihre „europäische“ Karriere, wenn man sie so nennen will, scheint eng mit Karlsruhe verbunden. Für Ihre Inszenierung von „Doctor Atomic“ von John Adams dort haben Sie den Götz-Friedrich-Preis erhalten. Und nun inszenieren Sie dort die „Walküre“. Wird das ein ganzer „Ring“?
Ja, aber einer, wie es ihn seinerzeit in Stuttgart gab, dass jeder der vier Teile von einem anderen Regisseur inszeniert wird. Und obwohl „Siegfried“ mir der liebste Teil des „Rings“ ist, finde ich die „Walküre“ – wie bei Wagner immer – in ihrer Ideenwelt etwas ungemein Bewegendes. Und irgendwie ist es auch angenehm, dass man im Gedanken nicht die anderen Teile mitinszenieren muss. Wenn man bedenkt, wie Brünnhilde sich später verändert – das geht mich nichts an. Ich habe nur in der „Walküre“ mit ihr zu tun!
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Opernbesuch?
Ja, da war ich vielleicht 13, und wir besuchten Essen, weil mein Vater hier als Nuclear Engeneer gearbeitet hat. Er meinte, gehen wir einmal in die Oper, das macht man hier in Deutschland so. Das war „La Traviata“, ich fand es langweilig und habe es nicht gemocht. Ich bin dann in Chicago aufgewachsen, und als ich in Berkeley studierte, entdeckte ich über das Theater die theatralische Seite der Oper. Und ihre philosophische Ebene, die eben bei Wagner so stark ist. Oper ist gutes Theater, sie sollte bestes Theater sein, das von der Musik vermittelt wird. Das habe ich dann nach und nach gelernt, als ich in San Francisco freiwillig und auf ein Jugendabonnement oft in die Oper ging. Ich habe natürlich auch Enttäuschungen erlebt, zumal als ich anfing, mich auf die Opernbesuche vorzubereiten. Ich hörte etwa „Wozzeck“, das war so packend, so stark, dass ich mir einen großen Opernabend erwartete. Und dann war es so stinklangweilig, so schlecht gespielt, so dumm ausgestattet – dass ich vielleicht aus Protest Opernregisseur geworden bin. Das darf man einem Publikum nicht antun! Als ich in Los Angeles meine eigene freie Operngruppe gründete, nannte ich sie absichtlich „The Industry“ – weil in Los Angeles jeder mit der „Industrie“ hier nur Film und Kino meint. Ich fand es schön, das auf die Oper auszudehnen, und wir haben einige viel beachtete Projekte gemacht, darunter eines am Bahnhof, in der Union Station …
Wie sind Sie von Los Angeles nach Karlsruhe gekommen?
Ein befreundeter Dramaturg, mit dem ich gemeinsam die Komponierhäuschen von Gustav Mahler abgeklappert habe – und jetzt inszeniere ich an der Wiener Staatsoper, wo Mahler Direktor war, man denke! -, hat mich empfohlen. Ich war auch vorher schon in Europa, habe in meinen Berliner Jahren als Regieassistent an der Deutschen Oper gearbeitet, dann ging ich nach New York, habe dort eine Theatertruppe gegründet, war bei Graham Vick Regieassistent bei seinem „Tannhäuser“ in San Francisco, und er hat mich als Assistent zu seiner Inszenierung von „Aida“ auf der Bregenzer Seebühne mitgenommen. Und als Achim Freyer, den ich sehr bewunderte, in Los Angeles den „Ring“ machte, war man sehr froh, dass jemand wie ich zwei Jahre seines Lebens damit verbringen wollte und außerdem noch Deutsch sprach…
Und die nächsten Pläne?
Nach Wien mache ich eine Woche Urlaub in Rom, komme aber wieder zu jener Vorstellung der „Tri Sestri“ zurück, die weltweit als Stream übertragen wird. Im Herbst gibt es die „Walküre“ in Karlsruhe, außerdem bin ich ab der nächsten Spielzeit für drei Jahre Artist in Residence beim Los Angeles Philharmonic Orchestra und werde in der dortigen Walt Disney Concert Hall Projekte machen, teils zusammen mit „The Industry“. Zuerst eine Klanginstallation, dann ein Schubert / Beckett-Programm mit Ian Bostridge – Schubert war der Lieblingskomponist von Samuel Beckett! – , und noch eine Wiederentdeckung der Oper „Young Caesar“ von Lou Harrison. Es gibt so viele Werke, die zu Unrecht vergessen sind. Zwischendurch werde ich mit Franz Welser-Möst in Cleveland wieder eine szenische Aufführung von „Pelleas und Melisande“ im Konzertsaal machen, und dann realisiere ich ein Werk, das mir schon seit zehn Jahren im Kopf herumgeht – Brechts „Galilei“. Bei flackernden Feuern am Strand von Santa Monica, Galilei soll seinen Protest gegen die Elemente schreien…
Das sind Pläne, die so aufwendig wie vielfältig erscheinen.
Ich kann von mir sagen, dass ich besonders das Unbekannte liebe, immer auf der Suche nach Neuem bin, nach der Vielfalt der Welt, die ich mit immer anderen Augen ansehen möchte.