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WÜRZBURG: REFIDIM JUNCTION von Margret Wolf – Uraufführung

11.11.2012 | KRITIKEN, Oper

Würzburg: „REFIDIM JUNCTION“ von Magret Wolf – Uraufführung am 10.11.2012

(Werner Häußner)

 „Refidim Junction“ – das klingt wie eine Straßenkreuzung irgendwo in der Wüste. Ist es auch: Die Israeliten lagerten nach ihrem Auszug aus Ägypten bei einem Ort namens Refidim, nachzulesen im Buch Exodus. Dort erlebten sie einen Einbruch des Bösen an sich, einen Überfall der Amalekiter: grundlos, erbarmungslos, auf bloße Vernichtung programmiert. Magret Wolf, Komponistin aus Jerusalem, hat diesen Ort des Bösen in den Titel ihres neuesten Musiktheaterwerks aufgenommen. „Refidim Junction“ nennt sie ihre beklemmende Auseinandersetzung mit der Shoah – und bezieht sich auf den jüdischen Religionsphilosophen Joseph B. Soloveitchik, der „Amalek“ – im Hebräischen bezeichnet das Wort den Inbegriff des Bösen – für den Nationalsozialismus verwendet hat.

Zwei Jahre hat Wolf an ihrer „szenisch-dokumentarischen Aktion“ gearbeitet; jetzt wurde das mehr als zweistündige Werk in einer beispielhaften Zusammenarbeit von Mainfrankentheater und Hochschule für Musik in Würzburg uraufgeführt. Der Eindruck war überwältigend: Das liegt sicher auch am Thema, und zwar jenseits politisch korrekter Betroffenheitskultur. Das liegt aber auch an der fordernden Verbindung einer formal ausgereiften, klangstarken Musik mit einem Libretto, das sich vom Erzählen fernhält, das Dokumente sprechen lässt, das den unbeschreiblichen Terror der eiskalt funktionierenden Nazi-Vernichtungsindustrie aus erheblicher Distanz und gleichzeitig tiefster Betroffenheit künstlerisch gegenwärtig setzt.

Das ist ein erhebliches Risiko, denn nach Adornos apodiktischer Verweigerung eines ästhetisch-künstlerischen Zugangs zum Ungeheuerlichen (nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch) hat es lange gedauert, bis sich die Kunst an das Thema wagte. Das Tabu nützte denen, die am liebsten alles vergessen und auf sich beruhen lassen würden: Verfemte Komponisten und Werke etwa blieben weiterhin unaufgeführt. Es half aber auch nicht bei dem, zu dem sich Kunst berufen fühlen kann: das Unsagbare, die tiefste Schicht des Entsetzens, aber auch der Scham, der Schuld, des Versagens zu „verdichten“ und damit, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Zwar schließt die zwangsläufige „Ästhetisierung des Grauens“, die Dramaturg Christoph Blitt zu Recht im Programmheft befürchtet und untersucht, die Gefahr ein, Bosheit, Terror und Leid in ihrer unmittelbaren Wucht zu verkleinern (was im Übrigen schon jede „Erzählung“ tut).

Andererseits ist eine künstlerische Bewältigung dazu in der Lage, dem Unbegreiflichen einen Begriff zu geben und es damit in seiner ganzen Tragweite, Komplexität und furchtbaren Unmittelbarkeit gegenwärtig und kommunizierbar zu machen. Und was fast noch wichtiger ist: Ein Medium wie das Musiktheater, das alle Sinne des Menschen anspricht und seine emotionalen Tiefenschichten erreicht, kann unter Umständen eine tiefere Wirkung erzielen als eine nüchtern-kühle, auf den Verstand zielende, scheinbar objektive Dokumentation. Wer etwa Götz Friedrichs unvergessene Berliner oder Barrie Koskys niederschmetternde Hannoveraner Inszenierung von Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ erlebt hat, wer den Sog des Schreckens in Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ nachfühlen musste, kann bestätigen, dass die Konfrontation mit dem absolut Bösen auf der Bühne nicht in Lagerromantik oder Opernschurkereien enden muss.

Das trifft sogar zu für Stücke wie Joshua Sobols beklemmendes „Ghetto“ (1984), das die Atmosphäre der Willkür und des Ausgeliefertseins gerade durch seine banal-komödiantischen Momente bestürzend gegenwärtig setzt. Im Übrigen ist diese Beobachtung nicht nur auf Werke zu beschränken, die sich mit dem politischen Terror des 20. Jahrhunderts befassen. Auch die pure Lust am Töten, wie sie etwa in „Macbeth“ momentan auf der Würzburger Bühne zu erleben ist, eignet sich nicht für ein unbeschwertes Bad in Verdi’scher Melodienseligkeit.

Magret Wolf hat das Dokumentarische und das Theatralische – sie nennt es „Aktion“ –miteinander verbunden und damit gegenseitig erhöht: Den Kern ihres Stücks bilden Briefe zweier jüdischer Frauen, der Würzburger Dichterin Marianne Rein und der zur Zeit der „Machtergreifung“ in Essen lebenden Perl Margulies. Es sind private Dokumente, in denen die Schrecken der Zeit meist nur in Andeutungen vorkommen, die sich um Alltag und Familie, um Liebe, Zweifel, Angst und Not drehen, die im Falle von Marianne Rein an eine Liebesgeschichte zwischen zwei Dichtern denken lassen. Aber wie in diesen oft einfachen Sätzen das Böse mitschleicht, das der einen der Frauen das Leben, der anderen Heimat und Existenz kostet, ist wegen seiner nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Drohung verstörend.

Wolf zieht in das Stück drei Ebenen ein: Die unmittelbarste ist die der beiden Frauen, verkörpert durch je eine Sängerin und eine Schauspielerin. Katja Beer (Sopran) und Charlotte Sieglin (Sprechrolle) sind Marianne – blonde, lange Haare, hochgewachsene Figur, vermutlich blaue Augen: das „deutsche Mädel“ des Rassenwahns, nicht nur der Nazis. Die Sängerin Judith Beifuß und die Schauspielerin Britta Scheerer übernehmen die Rolle der Perl: dunkelhaarig, braunäugig, weiche Formen. Für das Quartett bedeutet der Abend pausenlose Hochkonzentration. Kaum ein Moment bleibt ihnen, aus der Präsenz auf der Spielfläche auszubrechen. Schreien, Flehen, Protestieren; Einsamkeit, Angst, Resignation; verhaltene Nachdenklichkeit, flammende Wut, Verletzung und Sehnsucht nach Nähe: die Gefühlslagen der Briefzitate könnten unterschiedlich nicht sein. Aber selbst in der banalsten Bemerkung – Wollsocken anziehen, Unterwäsche suchen – schwingt die Bedrückung der Zeit mit, wird am einzelnen Schicksal greifbar, was es bedeutete, in dieser Zeit zu den Opfern zu gehören.

Die Ebene, die Menschen zu Opfern macht, ist in einer Video-Installation präsent. Sandra Dehlers Bühne meidet jede Form von plakativer Unmittelbarkeit. Es rollen einfach die Bestimmungen ab, die zwischen 1933 und 1942 erlassen wurden, um den Juden das Leben erst einzuschränken, dann praktisch unmöglich zu machen und schließlich zu nehmen. Es ist zu lesen, wie furchtbares juristisches Handwerk Zug um Zug Willkür in Gesetzesform gießt – bis schließlich die Züge fahren, nach Riga, nach Stutthof, nach Auschwitz und wie die Orte des Grauens alle heißen. Schreiendes Unrecht wird zu positivem Recht formuliert, hinter dem sich die Täter jahrzehntelang verstecken konnten. Die bürokratisch perfekte Machart lässt einen Kloß im Hals wachsen. An alles war gedacht, selbst an die – untersagte – Tätigkeit jüdischer Schaufensterdekorateure. Mit dieser Ebene korrespondiert, wie eine Reaktion, ein Gebetstext von Rywka Kwiatkowski aus dem Ghetto Łódż: „Ich habe keine Gebete mehr“.

Der Chor, gebildet aus Mitgliedern des Chores des Theaters, Studierenden der Musikhochschule und je zwei Frauen und Männern aus dem Bürgerchor des Mainfrankentheaters, zieht eine Zwischenebene ein: Er liest die Namen der 202 Würzburger, die auf der Deportationsliste der Gestapo am 27. November 1941 standen. Schicksale werden benannt, Opfer bekommen einen Namen. Marianne und Perl reihen sich ein in den unendlichen Zug der Ermordeten; die Toten aber werden greifbar jenseits abstrakter Listen: Die Menschen, deren Schicksal uns in „Refidim Junction“ nahe kommt, hätten auch Josef, Karl, Herbert, Anna, Erna oder Ilse heißen können …

Das Orchester, das Ulrich Pakusch mit souveräner Übersicht leitet, besteht aus Studierenden der Hochschule. Die übliche Besetzung ist angereichert mit achtfach besetzter Perkussion und Harfe. Cembalo und zwei Akkordeone spielen eine charakterisierende, auf die handelnden Personen bezogene Rolle. Magret Wolf, die in Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft studiert hat, verwendet „patterns“, also motivisch-melodische Bausteine, die sich permanent wandeln; eine zunächst repetitiv anmutende Musik, deren klangliche Variabilität und formale Flexibilität schnell einsichtig wird. Das Orchester agiert hinter dem Projektionsvorhang, der zu Beginn des Stücks einen friedlichen Wald zeigt: eine Naturidylle mit dem Hauch eines Friedhofs, trügerisch und unheilkündend.

Die Inszenierung von Kai Christian Moritz – langjähriges Mitglied des Schauspielensembles des Mainfrankentheaters – setzt auf die Spannung von strenger, ritualisierter Bewegung und genau beobachtetem, emotional geladenem Spiel. An ihm liegt es nicht, dass vor allem zum Ende des ersten Teils hin die Spannung zur Anspannung wird und zu reißen droht. Der Versuchung, zu viel in das Stück zu packen, ist Magret Wolf nicht entkommen: Der Zuschauer erlebt das Wachsen des Drucks gleichsam körperlich mit. Doch die Gefahr der Überreizung durch das Trommelfeuer der Emotion ist konkret. Es ist auch Moritz‘ Regie zu verdanken, dass es nicht zum Übersprung von extrem herausgeforderter Betroffenheit zu innerlicher Abstumpfung kommt. Dem Stück wären weitere Aufführungen zu wünschen; das Thema ist auch 67 Jahre nach dem Ende der Shoah bedrückend aktuell. Und Wolfs Musiktheater ist ein Teil der Erinnerungskultur, die dem Vergessen um der Opfer und der Zukunft willen entgegenwirkt.

 

 

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