WÜRZBURG: ORFEO ED EURIDICE am 16.06. (Premiere), 23.06.2012
(Werner Häußner)
Azione teatrale“ nannte Christoph Willibald Gluck seinen ehrgeizig-innovativen Opernversuch „Orfeo ed Euridice“, uraufgeführt vor nun fast 250 Jahren in Wien; ein Versuch, das Neue auch begrifflich zu fassen. Ähnlich ist Richard Wagner, einer der großen Gluck-Verehrer des 19. Jahrhunderts, mit „Tristan und Isolde“ verfahren: Die „Handlung“ will auch weg von der Konvention der „großen“ und der „romantischen“ Oper. Diese Verwandtschaft, früher schon als Anekdote der Musikgeschichte zum Besten gegeben, ist so abwegig nicht: Beiden Werken geht es, radikal und transzendental, um die Liebe und den Tod; um die Öffnung des Raums der menschlichen Existenz ins Jenseitige. Gluck drückt sich aus in den seiner Zeit geläufigen Bühnen-Chiffren des antiken Mythos, Wagner erfindet eine eigentlich geschichtslose, keltische Sphäre, gespeist aus der Fantasy-Literatur des Mittelalters.
Beide Werke sind sinnigerweise kurz hintereinander am Würzburger Mainfrankentheater zu sehen, und beide Inszenierungen nehmen die Todes-Thematik ungewöhnlich ernst, entfalten sie konsequenter als die Apotheose der ewigen, alles durchdringenden Liebe. Wenn das ein Zufall ist, so ist es ein sinnstiftender, denn die innige geistige Verbindung von Gluck und Wagner darf – im Vorfeld des Gluck-Jahres 2014 – ruhig einmal mit Mitteln des Theaters deutlich ausgearbeitet werden. Bernhard Stengele, der in Richtung Gera-Altenburg scheidende Schauspieldirektor, hat sich gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Marianne Hollenstein für einen zeitlos-abstrakten Ansatz entschieden. Stengele holt die Musiker auf die Bühne, bindet die von der Partitur geforderten zwei Orchester ein in einen skulpturalen Raum. Eine Schräge führt aus der Höhe der Hinterbühne zwischen den Orchestern abwärts auf die Spielfläche nahe am Zuschauer; ein Licht-Hintergrund taucht diese Spiel-Insel in verschiedene Farben, lässt so optisch Stimmungen zu, schafft Tiefe oder lenkt den Blick auf Schlüsselsituationen der Inszenierung.
In der Bewegungsregie greift Stengele – unterstützt von dem seit langen Jahren in Würzburg tätigen Tänzer und Choreografen Ivan Alboresi – teils zu bedeutungsvollen Gesten, wie sie auf griechischen Vasen dargestellt sind: Ausdruck des Schmerzes und der Trauer. Teils verwendet er bewusst archaisch-hieratisches Schreiten und nimmt es in Kauf, dass der Chor des Mainfrankentheaters mit der Stilisierung seine Probleme hat. Es tut gut, dass sich Stengele vor Bild- und Bewegungsaktionismus hütet, nur um die alte Steh- und Schreit-Oper zu vermeiden. Glucks „Orfeo“ ist kein Aktionstheater, gewinnt durch bildmächtige Langsamkeit und wenige, bedeutungsvolle Gesten.
Noch etwas spricht für den Entwurf von Stengele und Hollenstein: die Rolle der Musik, die den „Orfeo“ durchzieht und dramaturgisch fundiert. Als bestimmendes Moment wird sie repräsentiert durch die Orchester als integralen Bestandteil von Bühne und Handlung. Wenn Orfeo seiner geliebten Frau Eurydike begegnet, geschieht das mitten unter den Instrumentalisten. Musik begleitet nicht, sie bettet ein; Musik ist kein hinzutretendes Element der Oper, sondern ein integriertes Element des Ganzen – der „azione“ im Sinnen-Raum des Theaters.
Den Bühnenpersonen lässt Stengele größte Sorgfalt angedeihen: Orfeo behält die Fassung, bezwingt sich, bis die Zeremonie der Beweinung vorbei ist; erst dann, alleine geblieben, lässt er haltlos die Tränen fließen. Sein Gang zur Harfe ist Flucht in die Musik und versuchte Rettung durch Musik. Jede Situation stimmt: die Begegnung mit Euridice, das Spektrum der Empfindungen von der Wiedersehensfreude über die Irritation durch Orfeos Verhalten bis zur Resignation Euridices und der aufs Ganze gehenden Entschlossenheit des gequälten Orfeo.
Mit Sonja Koppelhuber (Orfeo) und Nathalie de Montmollin (Euridice) kann Stengele zwei bühnenbegabte Sänger agieren lassen. Die Sensibilität Sonja Koppelhubers drückt sich in ihrem anpassungsfähigen, dynamisch flexiblen Mezzosopran aus. Zwischen schneidend-brillanter Erregung und abgedunkeltem Wehmut ist ihr die Palette des Stimmklangs technisch verfügbar. Überflüssig ist nur, sich einem falsch verstandenen „historisch informierten“ Stimmklang anpassen zu wollen und dafür den Kern der Stimme zu verflachen: Auch der Schwellton des 18. Jahrhunderts will auf der gleichmäßig gehaltenen Atemstütze gebildet werden, klingt nur so ebenmäßig und schön gerundet. Nathalie de Montmollin zeigt eine klangvolle Stimme, die kaum raue Kanten kennt, aber in ihrer aus der Pariser Fassung entlehnten Arie „E quest‘ asil ameno“ ein wenig flexibler geführt sein dürfte. Die Szenen des Amor gibt Anja Gutgesell soubrettig-spitz mit einer viel zu hoch positionierten Stimme.
Ganz zeitlos wollte Bernhard Stengele – der seinen Einstand am Mainfrankentheater 2005 übrigens auch mit einer Antiken-Adaption, Offenbachs „Orphée aux Enfers“, gegeben hatte – nun Glucks Reformwerk auch nicht geben: Am Beginn und am Ende lässt er aufblitzen, wo er den schockartig-plötzlichen Verlust geliebter Menschen, die wütende Trauer, der Trieb, dem verlorenen Partner über die endgültige Lebensgrenze zu folgen, und die Sehnsucht, den Tod zu überwinden, heute verortet. Wir finden uns in der Ouvertüre in einer Demo wieder, einer fröhlich-friedlichen Bekundung von Werten wie „pace“, „Liebe“, „liberté“; dann fällt ein Schuss und Euridice sinkt, den erstaunten Blick des Schocks noch im Gesicht, zu Boden. Was dann kommt, wirkt wie eine verbildlichte Trauerarbeit Orfeos – der am Ende das Wort „pace“ in die Höhe hält. Stengeles verdiesseitigende Deutung mit den gern verwendeten Spruchbändern mag einen Hang zum Plakativen haben, wirkt aber, auf Wesentliches reduziert, weder abgedroschen noch peinlich.
Die Enttäuschung dieses Abends, der ins Programm des Würzburger Mozartfestes eingebunden war, bot das Philharmonische Orchester unter GMD Enrico Calesso. Die Akzente, die zum Staccato neigenden schnellen Noten, die schroff genommenen Kontraste, die dezidierte Phrasierung wollen sich an die historisch informierte Aufführungspraxis annähern. So weit, so gut. Aber die zahllosen Unsauberkeiten, schwimmende Einsätze der Violinen, schwammig artikulierte Posaunen, holprige Verzierungen und die steifen Phrasierungen in den Legati zeigen, dass Calesso und die Philharmoniker mit der Situation auf der Bühne nicht zurechtkommen. Vielleicht sind diese Probleme zur Wiederaufnahme der Oper am 30. September zu beseitigen; über den Premierenabend warfen sie einen bedauerlichen Schatten. Ungeachtet dessen: Viel Beifall im Publikum, aber auch manche Missfallenskundgebung für die Regie.
Werner Häußner