WÜRZBURG / Residenz: ERÖFFNUNGSKONZERT MOZARTFEST am 23.5.2014 (Werner Häußner)
Festivals gibt es mittlerweile wie Kettenläden in einer Innenstadt, an jeder Ecke und mit einem stets ähnlichen Angebot. Über den Sinn lässt sich streiten: Sie kommen dem Trend zur Event-Kultur entgegen, uniformieren aber auch die kulturelle Szene. Sie generieren Prestige und Einnahmen dank anreisender Gäste, verbrauchen aber auch Mittel, die der „kulturellen Grundversorgung“ bitter fehlen.
Als sich der Komponist Hermann Zilcher 1921 entschloss, in Würzburg eine „Mozartwoche“ zu etablieren, waren solche Überlegungen noch lange nicht aktuell. Zilcher hatte sich anregen lassen vom empfundenen Gleichklang der Architektur Balthasar Neumanns, den Fresken Giovanni Battista Tiepolos, dem eleganten Rokoko-Stuck Antonio Bossis und der Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, den man damals noch eher als den apollinischen Komponisten einer Welt verstand, wie sie Richard Strauss im „Rosenkavalier“ porträtiert hatte. Das niedliche Wolferl, der vollkommene, mit genialer Leichtigkeit schaffende Göttersohn schienen in die farbenfrohe, heitere Welt der Voluten und Rocaillen zu passen.
Später verkam dieses synästhetische Ideal zur bloßen Kulisse: In der Nazizeit ließ sich Zilcher mit den Machthabern ein, um sein „Kind“ zu retten, und das Mozartfest wurde zur harmlosen Unterhaltung von Volksgenossen, die sonst wenig zu lachen hatten. Nach der Wiedergründung des Festivals 1951 freuten sich die Menschen in der zerstörten Stadt an dem bisschen heiler Schönheit, die ihnen Raum und Musik in der Würzburger Residenz schenkten. Das Publikum wandelte sich: Die Symbiose von Musikliebhabern und repräsentationswilligem Bürgertum durchsetzte sich allmählich mit Besuchern um des Events willen: Exklusivität, Künstler mit bekanntem Namen und natürlich auch Repräsentation stehen in den Neunzigern im Fokus; dazu gehören ungestörter Genuss, fallweise mit kulinarischer Ergänzung, und das nicht alltägliche Ambiente der historischen Repräsentationsräume der Residenz.
Will sich ein Festival heute positionieren, liegt es nahe, sich an einer Eventkultur auf hohem Niveau auszurichten. Oder sich an spezielle Liebhaber zu richten und damit ein Image aufzubauen. Wo findet sich in diesem Spektrum das Würzburger Mozartfest, das immerhin beansprucht, das zweitälteste Musikfestival Deutschlands nach den Bayreuther Festspielen zu sein? Wie richtet man mit relativ bescheidenen Mitteln ein Festival aus, das sich in der internationalen Konkurrenz behauptet und sich künstlerisch profiliert?
Evelyn Meining, die neue künstlerische Leiterin des Würzburger Mozartfestes, will nun, nach Jahren wohlmeinender, aber nie konsequent durchgezogener Versuche, einen Durchbruch erreichen. Ein „Artiste étoile“ als Anreger und Programmgestalter – in diesem Jahr der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann – exklusive Programme für viele Konzerte, neue Konzertformen, begleitende Events in der Stadt für ein breites Publikum heißen die Mittel. Neu ist das alles nicht, aber in der konsequenten Kombination liegt der Weg zu mehr Nachhaltigkeit, auch zu einer schlüssig gestalteten inhaltlichen Linie.
Neu ist ein „MozartLabor“ vom 2. bis 4. Juni, bei dem ausgewählte Stipendiaten mit Komponisten, Musikern, Wissenschaftlern und Philosophen arbeiten: eine kreative Werkstatt unter Beteiligung des Publikums, an der sich unter anderem Wolfgang Rihm, Peter Sloterdijk und Ulrich Konrad beteiligen. Das Thema des Mozartfestes, „Mozart – trazoM: Musik im Spiegel“ wird in dieser dreitägigen Veranstaltung auf den Punkt gebracht.
Mozart nicht nur als sinnliches Erlebnis, schon gar nicht als musikalisches Dessert unter Blattgold und Marmorstuck, sondern als ein Verstand, Gefühl und Fantasie anregendes Ereignis: Das Eröffnungskonzert will die neue Richtung akzentuieren. Widmann hat das Programm zusammengestellt, präsentiert sich mit „Ikarische Klage“ als Komponist und mit dem Klarinettenkonzert (KV 622) als Solist, setzt an den Beginn die Sinfonie KV 550 in Moll, einer Sphäre, in der sich Mozart oft sehr persönlich musikalisch artikuliert hat. Wie sehr Widmann etwa die Moll-Stellen im Klarinettenkonzert liebt, machte er anregend und sehr persönlich gefasst klar, als er in das Werk einführte: das musikdramatische Element, das Spiel mit Erwartungen, die ausdrucksstarken Wendungen. „Alles das macht die Interpretation des Konzerts so aufregend, als würde man es ein Leben lang immer zum ersten Mal spielen.“ Widmann liebt Mozart.
Eine Liebe, die er mit seinem Instrument im Konzert in bezaubernde Töne fasst. Widmann akzentuiert etwa die Stellen, in denen Mozart nach Moll blickt, um kurz darauf mit einem fröhlichen Dur weiterzumachen. Er nimmt Details wichtig und animiert die Musiker des Kammerorchesters, gebildet aus Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Begleitfiguren nicht zu überspielen, sondern zu gewichten. Er will aber auch zeigen, wo Mozart, der oft immer noch für glatt und unproblematisch gehalten wird, Brüche und Dissonanzen in das Stück eingebaut hat: kein schmeichelndes Genießerkonzert, sondern ein Drama in Tönen. Widmann und das Orchester sorgen dafür, dass man es auch hört. Zum Beispiel in den Fagottstimmen, die kurz vor der Reprise im ersten Satz eine schmerzliche Färbung einbringen. Oder in den sich steigernden Moll-Akzenten im dritten Satz.
Und Widmann sorgt in diesem Rondo-Satz dafür, dass sich kein heiteres Gleichmaß einstellt, sondern sich das Rondo-Thema in Klang und Haltung stetig wandelt. Er lässt die Läufe samtweich fließen, er bindet die Tiefe bruchlos ein, er wechselt den Ton vom innigen Gesang des wundervoll austarierten langsamen Satzes zu den vorwitzigen Non-Legati des dritten. Man spürt körperlich, wie Widmann mit seinem Instrument verwachsen ist: Er tanzt mit der Klarinette – aber ohne die darstellerische Attitüde, mit der so manche Solisten ihr telegenes Marketing befördern.
Als es in den neunziger Jahren schon einmal „Mozart und die Moderne“ als Thema gab, waren Skepsis und sogar Abwehr im Publikum noch deutlich spürbar. Das hat sich offenbar gewandelt: Widmanns eigene Komposition thematisiert ein Motiv aus der antiken Mythologie, das seither die kulturelle Welt nicht mehr losgelassen hat: Der kühne Flug und bittere Fall des Ikarus inspirierte Widmann zu einer musikalischen Meditation über die Unvereinbarkeit von Höhe und Tiefe und die Klage über den Sturz eines Menschen, der das allerhöchste erstrebt hat.
Zu Beginn schwebende, sirrend raumlose Flageoletts, die im Pianissimo aufkeimende Tiefe der Celli und Kontrabässe, dann die zunehmend instabil werdende gleißende Höhe der Violinen. Aufbruch aus dem Flächigen zu rascher Bewegung, wie eine sich kräuselnde Wasseroberfläche, springende Bögen als erste Form einer Artikulation, eine ausdrucksvoll melodische Klage, ein Ausbruch in polyphone Bewegtheit. Das Werk nimmt gefangen – und das Orchester findet zu einer konturenscharfen Artikulation, die es im einleitenden Werk, der Mozart’schen g-Moll-Sinfonie, noch vermissen ließ. In diesem Dokument der einzigartigen Kompositionskunst Mozarts fehlte die gestaltende Hand der Dirigenten. Der Auftakt geriet verheißungsvoll. Wenn es so weitergeht, hat das Würzburger Mozartfest seinen Weg gefunden.