WÜRZBURG / Mainfrankentheater: LEBEN DES GALILEI 27.4. 2025 (Werner Häußner)
Toomas Täht (Galilei). Foto: Nik Schoelzel
Die Geometrie ist das mächtigste Werkzeug zur Schärfung des Verstands. Das schrieb Galileo Galilei im Jahr 1638, und man könnte meinen, Jeremias Böttcher habe mit seiner Bühne für Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ am Mainfrankentheater Würzburg diesen Satz in Raum verwandelt: ein strenges Rechteck, ausgestattet mit Stufensitzen, einer Arena ähnlich, ein Lichtwürfel und Lichtbänder, die mal linear, mal im rechten Winkel zueinander aufleuchten. Schwarz und grau die vorherrschenden Farben.
Manchmal brechen die schlichten Kostüme der Akteure, die ein bisschen an Brecht-Anzüge und an Arbeiterkluft erinnern, aus dem Schema aus: Dann schillern sie silbrig, provozieren mit Lackrot und aseptischem Weiß die Augen, wirken steif wie das Machtsystem, in das ihre Träger eingeschnürt sind. Bunt die Tiermasken, die im Karneval Gesichter verhüllen und Charaktere offenbaren. Angedeutete spanische Krägen verweisen auf die Epoche, in der Galilei bahnbrechende Forschungen vorgelegt und sich mit der katholischen Kirche und ihrer Inquisition angelegt hat.
Tim Egloff inszeniert in Würzburg nicht den Klassiker der beißenden Kirchenkritik, in dem eine wie selbstverständlich überzeugende Vernunft gegen tumbe Traditionshörigkeit anrennt. Der historische Konflikt, der mit der Rehabilitierung Galileis 1992 nach über drei Jahrhunderten an Schärfe verloren hat, tritt zurück. Egloff geht es um Grundsätzlicheres: Um die Rolle der Vernunft und die Kraft der Ideologien. Um die Frage, was einsichtige Erkenntnisse und rational erschließbare Fakten gegen die Verführungsmacht von Weltanschauungen und „deep fakes“ ausrichten können. Und um die Fragilität der Menschen, die der Vernunft zum Sieg verhelfen sollten. Denn die setzt sich nicht von selbst durch.
Galilei ist dafür das beste Beispiel: Er weiß um die Folgen vermeintlich neutraler wissenschaftlicher Erkenntnisse, die in die Hand verbrecherischer Mächtiger geraten – Brecht hat dieses Thema unter dem Eindruck von Atombomben und Aufrüstung in seiner Berliner Fassung von 1955/56 scharf herausgearbeitet. Galilei weiß aber auch, wie zerbrechlich seine Existenz ist: Um „den Milchmann zahlen“ zu können, gibt er die holländische Erfindung des Fernrohrs als seine eigene aus; vor den Folterinstrumenten der Inquisition schreckt er zurück und widerruft. Wozu ein Märtyrer werden?
Diese Ambivalenz bestimmt das Spiel von Toomas Täht, einem drahtigen Galilei, dessen Lust am guten Leben in seiner hageren, fast asketisch wirkenden Gestalt nicht aufscheint. Er pendelt zwischen scharfsinniger Selbstbehauptung („Ich glaube an die Vernunft“) und nagenden Selbstzweifeln, zwischen hochfahrendem Selbstbewusstsein und pragmatischem Selbstverrat. Die Wahrheit setzt sich nicht durch ohne Märtyrer: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, klagt Galileis Schüler Andrea Sarti bei seinem Abschied. Die Replik: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
Die Würzburger Inszenierung macht in ihrer nüchternen Wucht frappierend deutlich, wie Brecht in die Gegenwart zu holen ist – und das Publikum in den stets ausverkauften Vorstellungen geht aufmerksam und gespannt mit. Da gibt es nur noch Reste des alten Lehrstücks, viele der Schlüsselsätze wirken wie für unsere Zeit gesprochen. Gesichertes Wissen oder gar unumstößliche Wahrheiten werden nicht nur von populistischen Ideologen infrage gestellt. Lassen sich „Fakten“ überhaupt von ihrer Interpretation lösen? Ist Erkenntnis nicht immer von Interessen geleitet?
Wer bestimmt, welche Wahrheit gültig sein kann? Der Diskurs reicht tief in Fragen hinein, die alles andere als banal sind. Insofern mutet die Aufforderung des historischen Papstes Urban VIII. an Galilei, das heliozentrische Weltbild als Hypothese zu behandeln, geradezu postmodern an.
Im „Leben des Galilei“ werden die philosophischen Diskurse um Wahrheit und Erkenntnis nur angeschnitten; für Brecht stehen die politischen Auswirkungen im Mittelpunkt des Interesses. Egloffs Regie arbeitet sie mit pointierter Schärfe heraus. Da läuft es einem kalt über den Rücken, wenn der smarte Nils David Bannert als Galileis Schüler Ludovico mit dem „gesunden Menschenverstand“ gegen die Wissenschaft argumentiert. Und wenn am Schluss Galilei seinen Schüler Andrea Sarti – ein bisschen jugendlich-linkisch und ganz schön hitzköpfig: Nils van der Horst – für seinen Weg ins freiere Holland ermahnt, er solle auf sich achtgeben, wenn er durch Deutschland kommt, dann steht der zeitgeschichtliche Bezug, von Brecht auf die Nazi-Herrschaft gemünzt, heute angesichts eines drohenden Scheiterns der Aufklärung wieder unheimlich aktuell da.
Das Würzburger Schauspielensemble zeigt sich in diesem „Galilei“ von seinen besten Seiten. Fast alle zeigen in mehreren Rollen, wie wandlungsfähig sie agieren, so etwa Nina Mohr als besorgte Mutter oder als Galileis Widerpart Bellarmin. Als venezianischer Sparpolitiker bringt Tom Klenk im Diskurs mit Galilei über die „Nützlichkeit“ der Astronomie komödiantische Züge ins Spiel. Hannes Berg stellt sich im statuenhaft gestärkten Papstgewand als Urban VIII. zuerst schützend vor Galilei, aber Zlatko Maltar führt als sprachmächtiger Inquisitor eine scharfe Zunge und bleibt Sieger.
Patricia Schäfer hat als kleiner Mönch eine tiefgründige Szene; Laura Storz (Virginia) und Georg Zeies bewähren sich in mehreren kurzen Rollen. Adrian Sieber bringt die Musik von Hanns Eisler elektronisch auf einen zeitgenössischen Stand. In Würzburg glückt es, mit unaufdringlichen Mitteln Brechts Aktualität zu behaupten. Dass ihn die Zeiten so aktuell wirken lassen, macht dagegen eher unglücklich.
Werner Häußner