WÜRZBURG: GÖTTERDÄMMERUNG – Premiere
26.5. 2019 (Werner Häußner)
Wenn der „Ring des Nibelungen“ in der „Götterdämmerung“ angelangt ist, sind die mythischen Figuren längst verstummt und unsichtbar. Menschen (und auf menschliches Maß reduzierte Überwesen) agieren, während die Götter in Walhall auf ihr Ende warten. Die Bedeutung des Rings als Mittel zu unbegrenzter Macht ist nur noch einem bewusst: Alberich, der schlimme Alb ragt einsam aus der Sphäre der vergangenen „Tage“ hinein in die götterlose Welt. Und die Mächte der Natur und des Schicksals, Rheintöchter und Nornen, erinnern daran, dass nicht alles, was geschieht, nur dem Willen des Menschen entspringt.
Paul Zoller hat in seiner Bühne für Richard Wagners dritten Tetralogie-Tag in Würzburg eine sinnenfällige Lösung für diese Konstellation gefunden: In düsteren Vitrinen sind die Kräfte der mythischen Vergangenheit ausgestellt: Die abgesägte Weltesche im Zentrum, darum herum Wotans Speer, der Drachenkopf des toten Fafner, der von Siegfried gespaltete Amboss. Wotan sitzt unbeweglich in der Pose mittelalterlicher Herrscher, in den Händen nicht Schwert und Szepter, sondern seinen zerschlagenen Speer. Grane, das Ross liegt starr mit zum Himmel gestreckten Beinen in der Brünnhilden-Vitrine, in der sich freilich noch Leben regt: Von dort bricht Siegfried auf zu „neuen Thaten“, lässt seine Geschichte hinter sich – und vergisst sie bald, vom Trunk in der Halle der Gibichungen benebelt.
Diese Halle hat Regisseur Tomo Sugao manchmal zu aufdringlich in der Gegenwart einer überdrehten Spaßgesellschaft angesiedelt. Blaue Anzüge, knallrote Krawatten und silberblonde Fönfrisuren für die Herren (wie oft hatten wir in den letzten Jahren schon diese Trumpisierung des Theaters?), grellglänzende Cocktailkleider für die exaltierten Damen – die Kostüme von Carola Volles greifen in die Vollen. Bunte Luftballons und kreischend geschwungene Sektgläser vollenden das Klischee. Siegfried will dazugehören und bekommt prompt, als er nach dem Namen von Gunthers aufreizender Schwester fragt, eine rote Krawatte umgebunden.
Hagen – eine mehrdimensionale Figur
Aber die Bühne macht auch deutlich: Das ist alles nur Projektion, schemenhaft auf einem Vorhang-Halbrund. Man erkennt das oval office, aber dahinter bleiben die Vitrinen der Vergangenheit präsent, beklemmend und düster. So geschichtsvergessen sich diese Gesellschaft gibt, dem Gewicht der Vergangenheit entkommt sie nicht. Die Nornen, weißhaarige Mädels mit neckischem Gehabe, ziehen die Projektionsflächen auf und weg, und bei Alberichs nächtlich-traumdunklem Besuch bei Hagen zu Beginn des zweiten Aufzugs vermischen sich die Räume. Da wird Wotan für einen Moment lebendig, strecken die Rheintöchter stumm begehrend die Arme aus. Alberich aber, camoufliert als pullovertragender Spießer, schärft seinem Sohn ein, worum es eigentlich geht – um den Ring und seine Macht.
Dieser Figur, die sonst gerne als eindimensionaler Bösewicht gezeichnet wird, hat Tomo Sugao eine Geschichte gegeben, entwickelt aus Nebenbemerkungen des Librettos, die nun plötzlich psychologisches Gewicht bekommen. Im Vorspiel schon taucht ein Kind zwischen den Ausstellungskästen auf, später durch eine riesige dunkle Brille als kleiner Hagen identifizierbar. Sein Vater – Alberich – führt ihm verärgert ein Buch vor Augen, das Kind wehrt sich, wird am Ende vom Seil der Nornen umsponnen und – als dieses reißt – im roten Faden gefangen. Das Kind, großartig präsent gespielt von Friedrich Boenisch, wird auch später als Chiffre für Hagens Seele auftauchen: In der alptraumhaften Begegnung mit Alberich wird es die Vergewaltigung seiner Mutter Grimhild miterleben, während des Trauermarsches im dritten Aufzug entsetzt erfahren, dass es seine Mutter nicht schützen kann.
So präsentiert Sugao in diesem Kraftakt der Würzburger Bühne eine „Götterdämmerung“ als eine Art Familien-Aufstellung der von Gewalt und Erniedrigung gekennzeichneten Herkunft Hagens. Guido Jentjens, wie die anderen Sänger auch ein Debütant in seiner Rolle, trägt diesen sinnreichen Wandel der Figur fabelhaft konsequent mit. Er ist kein dunkelsatt orgelnder schwarzer Held, sondern eher ein nachdenklicher, seelisch gezeichneter Intellektueller, grüblerisch, in sich gekehrt, in entscheidenden Wendepunkten kühl lächelnd auf der Seite der Pläne seines Erzeugers.
Am Ende, wenn Alberich und Hagen vor den Flammen der brennenden Götterburg, projiziert auf den Vorhang, umherirren, klingt sein „Zurück vom Ring“ eher an Alberich gerichtet. Wenn dann der kleine Hagen und die Kinder-Seele Siegfrieds (Lovis Iristay) im Dampf zwischen den gekippten leeren Vitrinen Fangen spielen, keimt so etwas wie Hoffnung auf eine neue Welt auf: Eine Welt, in der die Gegner versöhnt und das Unheil der Geschichte neutralisiert sind.
Foto: Mainfrankentheater Würzburg/ Nik Schölzel
Ein Zyklus aus dem Repertoire der „grand opéra“
Würzburgs „Götterdämmerung“, möglich geworden durch einen sechsstelligen Beitrag des Richard Wagner Verbands und der Herbert Hillmann und Margot Müller Stiftung, steht nicht im Zusammenhang einer „Ring“-Produktion, sondern ist Abschluss einer mehrteiligen Auseinandersetzung mit der „grand opéra“, die 2011 mit Meyerbeers „L’Africaine“ begonnen hat und über „Les Huguenots“ und Verdis „Vȇpres Siciliennes“ nun zu Wagners Reflexion auf diese – von ihm geschmähte und dennoch geschickt adaptierte – Gattung führte. In der nächsten Spielzeit steht „Das Rheingold“ auf dem Programm des Mainfrankentheaters, das möglicherweise dann der Auftakt eines „Ring“-Projekts wird, realisiert in Ausweichspielstätten für den ab 2020 wegen Generalsanierung geschlossenen, über 50 Jahre alten Theaterbau.
Die Inszenierung Sugaos lässt die „Götterdämmerung“ mit Geschick als ein in sich abgeschlossenes Werk wirken und entdeckt mit der vertieften Interpretation der Hagen-Figur einen Aspekt, der in anderen Deutungen nicht so konsequent herausgearbeitet wird. Insofern hat diese „Götterdämmerung“ ihren Sinn und beantwortet die Frage, warum im inflationären „Ring“-Gekreise der deutschen Theaterlandschaft ausgerechnet Würzburg nun auch noch beginnt zu tetralogisieren.
Die Frage stellt sich auch musikalisch, denn im Würzburger Graben lässt sich gerade einmal die Hälfte des „Götterdämmerungs“-Orchesters unterbringen. Und auch auf diese Herausforderung hat man am Main eine kreative Lösung gefunden: GMD Enrico Calesso verwendet nicht die als „Coburger“ bekannte reduzierte Fassung, die im Wesentlichen nur die Zahl der Musiker ausdünnt. Sondern er bringt eine Neufassung für mittelgroßes Orchester zur Uraufführung, erarbeitet von (dem einst als „enfant terrible“ im Musikbetrieb bekannt gewordenen) Eberhard Kloke und in der Universal Edition erschienen.
Sie bleibt der „qualitativen Erweiterung des Instrumentariums“ treu, mit der Wagner die Tonsprache seines Orchesters im Gefolge der Errungenschaften von Meyerbeer und Berlioz erweitert hat. So gibt es auch in Würzburg Wagnertuben, Kontrabassposaune und Stierhörner, aber einen reduzierten Streicherapparat, der seine Fülle versucht zu bewahren, indem sich die Gruppen gegenseitig unterstützen, also etwa die zweiten Geigen an wichtigen Stellen gemeinsam mit den ersten spielen. Fünf der sechs vorgeschriebenen Harfen ersetzt Kloke durch eine Celesta, mit besonderen Instrumenten wie einer Kontrabassklarinette stützt er Wagners Absicht, den Ton zu verdunkeln und markiert bedeutende Schnittstellen des Dramas. Klangvarianten und Spieltechnik sorgen also für einen neuen, stellenweise überraschend ungewohnten, aber kreativen Klang. Für Puristen wohl ein Gräuel, aber die Alternative, das Werk an kleineren Häusern dann lieber überhaupt nicht aufzuführen, stellt sich nicht, zumal die Kloke-Fassung den bisher genutzten reduzierten Versionen überlegen ist.
Enrico Calessos ruhig-souveränes Dirigat
Unter Enrico Calessos ruhig-souveräner Stabführung klingt diese „Götterdämmerung“ immer noch bläserlastig, aber auf der anderen Seite farbig und in vielen Momenten kammermusikalisch genau. Auch wenn der Wagner-Saft nicht opulent strömt, ist musikalisch vieles gewahrt, die Transparenz der Motivik etwa, das harmonische Geflecht, auch die Pointen des Rhythmus und die bedeutungsvollen Klangfarben.
Für ein Orchester, das sich seit Jahren erstmals wieder mit einem „großen“ Wagner-Musikdrama beschäftigt, klingen die Würzburger Philharmoniker – wie übrigens auch der Chor Anton Tremmels – nach einer Rekordzahl von Proben sehr überzeugend. Auch wenn die Blechbläser spieltechnisch an ihre Grenzen kommen und im dritten Akt die Konzentration nicht mehr ganz auf der Höhe ist, geben sich die Musiker keine Blöße, im Gegenteil. Während sie sich im ersten Akt noch vorsichtig in die Partitur hineintasten, ermutigt sie Calesso im zweiten zu spürbar befreitem Spiel. Die Tempi sind gemessen, aber der organische Fluss der Musik ist im Konzept Calessos angelegt und wird sich im Lauf der nächsten noch fünf Vorstellungen sicherlich einstellen. Der enthusiastische Beifall für die Musiker war mehr als berechtigt.
Elena Batoukova-Kerl, Paul McNamara. Foto: Mainfrankentheater Würzburg/ Nik Schölzel
Auf der Bühne stehen in Würzburg durchweg Rollendebütanten. Der Bass Guido Jentjens singt den Hagen, der Konzeption der Figur entsprechend, nicht satt und schwarz, sondern eher mit nachdenklichen Zwischentönen, an den entscheidenden Stellen auch auftrumpfend und klangvoll. Ein durchweg überzeugendes Porträt einer innerlich zutiefst traumatisierten Persönlichkeit. Siegfried, von Paul McNamara ohne Tenorprotz gegeben, ist eher jugendlich unbekümmert als heldenhaft strahlend aufgefasst; seine Geschichtsvergessenheit trägt auch humorvoll verschmitzte Züge: Ein vergnügter sympathisch offener Typ, dessen fataler Fall umso schmerzlicher wirkt.
Die Brünnhilde von Elena Batoukova-Kerl bricht mit ihrem monochromen, archaischen goldgefassten Gewand wie ein Fremdkörper in die bunte Welt der Gibichungen ein, schleudert die „Helden“, jämmerliche blonde Klone, mit einem Ruck ihres Arms beiseite und lässt sich, distanziert und angewidert, auf keinerlei Zugänglichkeit ein. Ihrer Stimme fehlt die tragende Tiefe und die klare Artikulation, doch die Töne der Mittellage sitzen rund und ohne schrille Metallbeigabe, die Höhe ist zuverlässig, aber manchmal noch nicht kraftvoll abgesichert. Ein imposantes Debüt. Exquisit und souverän: Sandra Fechner aus Leipzig als Waltraute. Auch Kosma Ranuer als Gunther mit einer kindischen Goldkrone auf dem Kopf, ansonsten aber von der Regie nicht karikiert, sondern eher unsicher und orientierungslos gezeichnet, kann stimmlich mit ausgeglichenem Bariton punkten.
Bei anderen Mitgliedern des ambitionierten Götterdämmerungs-Ensembles sind mehr oder weniger Abstriche zu machen: Claudia Sorokina, eine sonst sehr zu schätzende Sängerin, findet sich zwar darstellerisch, nicht aber stimmlich in die Rolle der Gutrune. Marzia Marzo war eine hinreißende Rossini-Rosina und Offenbach-Helena, ist aber zu zaghaft und lyrisch für eine Erste Norn; auch für Barbara Schöller und Silke Evers sind die Schicksalsweiber nicht die Rollen erster Wahl. Die Rheintöchter Akiho Tsujii, Silke Evers und Hiroe Ito bilden ein klangvolles, entspanntes Ensemble. Igor Tsarkov erliegt als Alberich vokal einem Missverständnis: Statt aus einer kantablen Grundhaltung heraus den Klang und das Wort zu gestalten, versucht er, die Töne isoliert zu stützen und zu betonen und verfällt ins Stoßen und Bellen.
Blick in die „Ring“-Geschichte Würzburgs
Mit dieser ersten „Götterdämmerung“ in Würzburg seit mehr als 100 Jahren hat das Mainfrankentheater einen bejubelten Erfolg erzielt und seine künstlerische Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können. Die erste Vorstellung des dritten Tags der Wagner’schen Tetralogie in Würzburg fand übrigens am 27. Februar 1903 statt, nachdem vorher bereits „Die Walküre“ und „Siegfried“ gegeben wurden. Der Theaterzettel im Stadtarchiv vermerkt die „vollständig neuen Decorationen“ aus dem Atelier „des Herrn Hofrath Professor Brückner in Coburg“. Gemeint ist der Theatermaler Max Brückner, der für so gut wie alle namhaften deutschen Theater Bühnenbilder schuf – so auch für den ersten Bayreuther „Ring“ 1876.
Am Pult des alten Würzburger Stadttheaters stand damals Kapellmeister Felix Pinner, den Siegfried sang der Tenor Richard Merkel, der bis zu seinem Tod 1915 in Bern, Aachen, Chemnitz und Leipzig noch große Erfolge feiern konnte. Brünnhilde war – wie bereits in der „Walküre“ – Auguste Gerstorfer, die in Würzburg unter anderem Leonore (Fidelio), Ortrud (Lohengrin), Elisabeth (Tannhäuser), Fricka (Rheingold), Senta (Der fliegende Holländer), Giulietta (Hoffmanns Erzählungen) und Aida gesungen hat und später nach Nürnberg ging. In der Rolle des Hagen war der ehemalige Heldentenor (!) Franz Fitzau zu hören, der von 1902 bis 1904 am Stadttheater Würzburg auch Rollen wie Wotan, Wanderer und Ruthven in Heinrich Marschners „Vampyr“ gesungen hat, bevor er seine Karriere in Berlin, Danzig, Darmstadt und Dessau bis zu seinem Tod 1922 fortsetzte. In der Spielzeit 1905/06 konnten die Würzburger dann in der Zeit der Direktion von Heinrich Hagin den gesamten „Ring“ erleben, allerdings nicht zyklisch, sondern in mehreren Vorstellungen zwischen November und März.