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Wolfram Siemann: METTERNICH

13.07.2016 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

BuchCover  Siemann, Metternich

Wolfram Siemann:
Metternich. Stratege und Visionär.
Eine Biographie.
983 Seiten , Verlag C.H. Beck, 2016

Staatskanzler Fürst Metternich genießt in unserer Welt keinen sonderlich guten Ruf, gilt er doch als Exponent jenes reaktionären und repressiven „Zopfen“-Systems der Habsburger-Monarchie, das 1848 zur Revolution führte – die dann ihn ganz, das System nicht so ganz weggeschwemmt hat. Dennoch war er in der Napoleonischen Ära und eigentlich in der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der mächtigsten, bedeutendsten Staatsmänner Europas, eingewebt in ein dichtes Netz von Politik und Diplomatie, und solcherart für Historiker immer von Interesse und Reiz.

Allein der Untertitel der jüngsten Biographie aus der Feder von Wolfram Siemann (Professor für Neue Geschichte in München) lässt ahnen, dass hier ein anderer, nicht ausschließlich negativer Aspekt gewählt wird: „Metternich. Stratege und Visionär“. Und das bietet für den Leser den Reiz, dass Metternich hier nicht zum x-ten Mal als Erfinder und Exekutor einer „Unterdrücker“-Herrschaft perpetuiert wird. Metternich selbst nannte den Begriff „Metternich’sches System“ übrigens ein Unwort…

Die Biographie von Wolfram Siemann blendet zuerst auf die vorliegenden Metternich-Biographien durch die Jahrhunderte zurück und stellt das Logische fest: Dass die Beurteilung seiner Person fest vom ideologischen Standpunkt der Biographen abhing. Viele, vor allem negative Urteile haben sich von Werk zu Werk weiter gezogen, „Heldenverehrung“ seiner Person ist (grundsätzlich ebenso falsch wie Verdammung) vergleichsweise selten. Selbst jener Historiker, der laut Siemann das Beste an „Gelehrsamkeit, Belesenheit und Erschließung der Quellen“ bietet, nämlich Heinrich von Srbik (von der Nachwelt als treuer Nationalsozialist nicht sonderlich geschätzt), kam 1925 nach zweibändigem Wälzen von Material zu keiner ganzheitlichen Betrachtung der Persönlichkeit, widerspricht sich selbst andauernd in seinen Beurteilungen.

Was nach ihm kam, tut Siemann zu Recht mit Nebensätzen ab, Biographien, die sich ja doch meist auf das Liebesleben des Fürsten konzentrieren, halten keinen Standards der Geschichtswissenschaft stand. Und diese ist bei Siemann in hohem Maße vorhanden, wobei er doch – nicht expressis verbis, aber in seiner ganzen Arbeit und Haltung – meint, dass unsere Zeit sich – endlich! – dem Phänomen Metternich sine ira et studio nähern kann.

Siemann tut das auf mehreren Ebenen, immer wieder auf die Primärliteratur (vor allem den reichen Nachlass) zurückgreifend, wobei Metternich als geradezu notorischer Briefeschreiber ununterbrochen wertvolle Eigenaussagen hinterließ.

Erstens will Siemann alles wirklich genau wissen, das „Drüberschreiben“, das viele Historiker pflegen, ist seine Art nicht. Wenn er etwa einer Reise des jungen Metternich nach England nachgeht, dann fragt er sich Tag für Tag, was dieser dort unternommen und was es für ihn an Information oder Erleben bedeutet hat, welche Folgen es auch haben musste.

Zweitens ist er nie gehässig, versucht nicht, jede Tat Metternichs allein dazu zu benützen, ihn als den verachtenswerten, negativen Charakter darzustellen, wie es immer wieder geschehen ist. Vielmehr steht bei ihm stets die Frage nach dem „Warum“ im Vordergrund und da ergeben sich Antworten, die aus den Erfahrungen eines Lebens und aus der spezifischen Prägung und Intelligenz dieses Mannes resultieren. (Privates wird nie sensationslüstern, sondern immer nur im Zusammenhang mit Ereignissen und Entscheidungen eingebracht – eine Abwechslung zu den Werken, die sich mit nichts anderem befassen als Metternichs Frauengeschichten.)

Und drittens bettet Siemann ihn so ausführlich in seine Zeit und Umwelt ein, dass deren Einflüsse und Notwendigkeiten als integraler Teil der Biographie begriffen werden. Retrospektiv nach veränderten Wertmodellen die Vergangenheit zu verurteilen, ist unhistorisch. (Das breite Bild sorgt dann auch für den Umfang des Buches – knapp tausend Seiten, die letzten 120 davon als Anmerkungen.)

Die „sieben Epochen“, in die Siemann Metternichs Leben gliedert, sind dem Autor so wichtig, dass er sie gleich an den Beginn der Einleitung stellt. Und tatsächlich – wenn jemand 1773 in eine hochadelige, mächtige, weit verzweigte Familie hineingeboren wird, war er (aller Erkenntnisse der Aufklärung ungeachtet, die sich unter den Intellektuellen Bahn brachen) immer noch ein Vertreter des „Ancien Régime“. Und mit 15 Jahren alt genug, um wachen Geistes mitzubekommen, was die Französische Revolution 1789 unter seinesgleichen anrichtete. Innerhalb weniger Jahre der Zusammenbruch einer Welt, aus der Sicherheit ins Chaos, und das in früher Jugend.

Man muss auch bedenken, dass mit dem ersten so genannten „Koalitionskrieg“ 1792 (Österreich, Preußen und deutsche Staaten gegen das revolutionäre Frankreich) eine Epoche folgte, in der ein Krieg vom nächsten abgelöst wurde, es waren dann die „Napoleonischen“, die bis 1815 währten: Fast ein Vierteljahrhundert, in dem Europa nicht zur Ruhe kam, und die Metternichs haben 1794 im Zuge der Ereignisse ihre Besitzungen verloren und kamen verarmt nach Wien: Flüchtlinge. Auch das ein elementares Erlebnis für einen jungen Mann mit Anfang 20, wobei Siemann auch erzählt, dass Metternich bei seiner Rückkehr aus England am Kanal unter den Beschuss französischer Schiffe, also in unmittelbare Lebensgefahr geriet: Auch das zweifellos prägend.

Als dritte Epoche von Metternichs Existenz nennt Siemann jene Kriege, mit denen Napoleon Europa überzog – jener Napoleon, mit dem sich Metternich (zuerst Gesandter in Dresden und Berlin) als Botschafter in Paris (sie begegneten einander 1806 zum ersten Mal) und in der Folge als Außenminister, dann als Staatskanzler von Kaiser Franz I. faktisch ununterbrochen befassen sollte. Die Passagen des Buchs, in denen Siemann Metternich und Napoleon gegenüber stellt, den geborenen Fürsten und den zweifellos von „sozialen“ Minderwertigkeitskomplexen geprägten Emporkömmling, der sich zum Kaiser machte und faktisch Europa beherrschen wollte, sind besonders faszinierend zu lesen. Hier wird klar, wie ein Diplomat und Politiker wie Metternich den Umgang mit einem Mann lernen musste, der völlig unberechenbar und tatsächlich wahnsinnig gefährlich war (Metternich befand sich mehrfach in echter Lebensgefahr, weil Napoleons Willkür ihn auch das Leben hätte kosten können). Ebenso muss man bedenken, was in der allgemeinen Verklärung Napoleons untergeht (ebensowie in der Verklärung der Französischen Revolution): Dass es sich hier um Blutbäder ohnegleichen handelte, die Napoleon entfesselte, dass er nicht nur mit voller Absicht das Gefüge Europas zerstörte, sondern auch ohne die geringsten Gewissensbisse Hunderttausende in den Tod schickte – wobei ihm um die eigenen Franzosen so wenig leid war wie um die Soldaten anderer Völker. Völker, die er nach Wunsch und Willen umherwirbelte. Man versteht angesichts dieser ständigen Bedrohung, die ein Mann wie Napoleon darstellte, dass man quasi bereit war, die Jungfrau dem Drachen vorzuwerfen (sprich: Erzherzogin Maria Louise mit Napoleon zu verheiraten), um sich damit Frieden zu erkaufen. Was bekanntlich nicht gelang…

Dass Metternich dann der führende Kopf war, das zerstörte Europa 1814 / 15 beim Wiener Kongress halbwegs zu „richten“, ein Gleichgewicht der Kräfte zu etablieren, um künftige Kriege zu verhindern, Frankreich nicht zu demütigen (eine Einsicht, zu der spätere Sieger großer Kriege nie gelangen konnten), wurde meist anerkannt. Dass in der Folge – in dem persönlich vielfach erlebten Wissen, was Unruhe und Unordnung anrichten können – das System der „Restauration“ herrschte, resultierte aus der berechtigten Sorge, das Chaos könnte wiederkehren (man denke an den Anarchisten-Mord Sand an Kotzebue).

Die nächsten Epochen, die Metternich erlebte und die wieder scharfe und noch schärfere Veränderungen brachten, waren die Revolutionen von 1830 und schließlich 1848, die ihm, als den „Verhassten“, zwar nicht das Leben, aber immerhin eine zeitlang die Heimat kostete. Das Exil in England und Brüssel dauerte für den alten, aber letztlich ungebrochenen Mann zweieinhalb Jahre: 1851 lud Kaiser Franz Joseph ihn zur Rückkehr ein. Metternich lebte noch bis zu seinem Tod 1859 in dieser Welt der „nachgeholten bürokratischen Modernisierung des Neoabsolutismus“, wie der Autor es nennt.

Jede einzelne Epoche, meint Wolfram Siemann, hätte für ein ganzes Leben gereicht. Dass in der Anpassung an jegliche gravierende Veränderung Widersprüche in einem Charakter auftauchen mussten, scheint selbstverständlich, hat aber noch niemand so genau aufgezeigt wie dieser Autor. Dass das kein stur-engstirniger Konservativer war, sondern ein gebildeter, reflektierender, kosmopolitischer, aufgeschlossener, durchaus zukunftszugewandter Denker und Stratege, wird immer klar, egozentrisch und eitel ohne Zweifel, ohne dass dies seine Leistungen beeinträchtigt hätte. Nie ein Idealist (wie gefährlich das sein konnte, erlebte er als junger Mann an einem Erzieher, der zum wilden Jakobiner mutierte), immer ein Pragmatiker, aber im Grunde kein Zyniker. Kurz, Siemann sieht das Positive an Metternich und legt es überzeugend dar.

Man muss sich zwar durch sehr viel Diplomatie hindurchlesen (aber wer dieses Buch ernsthaft zur Hand nimmt, der will das auch), aber dennoch hilft Siemann dem Leser, macht die Materialfülle durch die Unterteilung in viele Kapitel und dann wieder durch Zwischentitel so übersichtlich wie möglich. Das in den Text eingebaute Bildmaterial ist spärlich, was aber keine Rolle spielt: Das ist ein Buch zum Lesen, nicht zum Blättern. Ein Buch, von dem man ausgehen sollte, wenn man künftig über Metternich spricht.

Renate Wagner

 

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