Wolfgang Will
DER ZUG DER 10000
DIE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE EINES ANTIKEN SÖLDNERHEERES
320 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2022
Nicht nur, wer des Griechischen mächtig ist, mag Xenophon gelesen haben, es gibt ihn auch auf Deutsch. Und so horcht man bei dem Titel „Der Zug der 10000“auf, und gar erst bei dem Untertitel „Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres“, denn das erzählt Xenophon bekanntlich in seinem Buch „Anabasis“. Und nun erzählt es der Althistoriker Wolfgang Willi, als Autor immer wieder im alten Griechenland und alten Persien unterwegs, neu.
Tatsächlich ist es, weitgehend in Form einer Biographie, vor allem die Geschichte des Xenophon selbst, die man hier geboten bekommt. Der Autor beginnt mit dessen späteren Jahren auf seinem Landgut in Skillus, wo er sich mit Landwirtschaft befasste, aber auch zu seiner alten Leidenschaft. der Geschichtsschreibung, zurückkehrte. Und in diesem Fall konnte er beschreiben, was er selbst erlebt hatte – die Geschichte der griechischen Söldner in persischem Dienst, die fast so schlecht ausgegangen wäre.
Aber auch dazu braucht es ein wenig Vorgeschichte im Leben des Xenophon, der aus einer adeligen Familie stammte und ein leidenschaftlicher Schüler des Sokrates war. Die Situation in Athen war damals eine schlimme, nach dem verlorenen Peloponnesischen Krieg herrschten eineinhalb Jahre die „Dreißig“ – dreißig Oligarchen, deren Terror schwer zu entkommen war. So verwundert es nicht, dass ein noch junger Mann wie Xenophon (damals zweite Hälfte 20) sehr interessiert war, als er seinem Jugendfreund Proxenos begegnete, der zu jenen Leuten gehörte, die eben für den persischen Prinzen Kyros eine Söldnerarmee aufstellten…
Und da beginnt der „persische Teil“ der Geschichte, den Xenophon in einem Buch so beginnt: „Dareios und Parysatis hatten zwei Söhne, der ältere war Artaxerxes, der jüngere Kyros.“ Autor Willi bemerkt dazu, so könne ein Grimm’sches Märchen beginnen, und es würde genau so blutig enden… Es läuft auf einen Bruderkrieg hinaus, dessen wilde Vorgeschichte ausführlich geschildert wird. Tatsächlich erhob sich Kyros, der jüngere Sohn des verstorbenen Achämeniden-Großkönigs Dareios II. gegen seinen Bruder, Großkönig Artaxerxes II.
Natürlich konnte Kyros das Heer, das er benötigte, nicht in seiner Heimat aufstellen. Er beauftragte zahlreiche griechische Söldnerführer, ihn mit ihren Männern in Sardes (Lykien) zu treffen, zum gemeinsamen Aufbruch gegen die Heere des Bruders (was nur die Anführer, nicht die Soldaten wussten). Es waren die legendären „Zehntausend“ (eigentlich sogar mehr), die sich einfanden, Xenophon nicht als Soldat darunter, sondern in einer Sonderstellung bei Kyros, die ihm sein Freund Proxenos verschafft hatte. Tatsächlich sollte er vom Beobachter und Tagebuchschreiber später zu einer wichtigen Führungspersönlichkeit in der kommenden Geschichte werden.
Diese Soldaten, denen es nur ums Geld ging, waren keine angenehmen Zeitgenossen, und sie bemerkten auch (ebenso wie Xenophon, der hier erst die Wahrheit erfuhr), dass man sie belogen hatte. Kyros wollte absolut nicht die als kriegerisch bekannten Pisider bekämpfen (die tatsächlich weder von den Persern noch von Alexander dem Großen je besiegt wurden), sondern durch die Kilikische Pforte zum Euphrat, um den Bruder dort zu stellen. Für Xenophon wurde der Feldzug auch zur „Reise“, bei der er Land und Leute, Flora und Fauna mit Interesse beobachtete, was später auch einen Teil des Reizes seines Buches ausmachte.
Es kommt bei Kunaxa (nahe Babylon) zur Schlacht, an sich siegen die Griechen gegen die überlegenen Perser – aber sie haben Kyros persönlich im Stich gelassen. Der fällt durch einen Speerwurf durchs Auge in unmittelbarer Nähe des Bruders, was sein Söldnerheer nicht weiß. Die paralysierende Situation danach ist unendlich schwierig – schließlich muss sich die herrenlose, funktionslose Schar ergebnislos irgendwie auf den Heimweg machen.
Rund hundert Seiten hat das Buch von Wolfgang Will bis hierher gebraucht, eine hautnahe Schilderung. Aber die „Katabasis“, der Rückzug, wird eineinhalb mal so lang (im Buch) und ist auf jeden Fall unendlich schwieriger. In diesem „langen Marsch“ aus dem zentralen Irak nördlich zur von Griechen bewohnten Schwarzmeerküste spielte Xenophon dann die Rolle eines gewählten Führers in jeder Hinsicht, die er nicht in Herren-Manier ausübte, sondern für jedermann zu sprechen war. Die Männer standen vor schier unlösbaren Problemen, da man dem Heer die Wagen und Zelte verbrannt hatte. Sie mussten Sklaven und Gefangene als zu schwere Last zurücklassen (und damit eine Einnahmequelle, die sie sich zuhause, beim Verkauf, erhofft hatten). Man musste Proviant finden und vor allem die Wege nach Norden. So richtig hatte wohl nur Xenophon ein Auge für all die fremden Menschen und Sitten, denen man unterwegs begegnete.
Nachdem man über das Schwarze Meer den Bosporus erreicht hatte (die Söldner stritten begreiflicherweise um ihr Geld) und sich das Heer auflöste, geht die Geschichte wieder zu Xenophon persönlich zurück (nicht, dass er nicht eine Riesenrolle im Rückzug gespielt hätte): Wie einst Alkibiades, der auch stets zwischen Athen und Sparta pendelte (was ideologisch nicht so einfach war), nahm Xenophon ein Angebot Spartas an, da ihn Athen schließlich wegen seiner Teilnahme an dem persischen Feldzug verbannt hatte. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis das Urteil aufgehoben wurde und er seine Heimatstadt wieder sah.
Etwas Bedeutenderes als diesen irren, wirren, verrückten Persien-Feldzug hat er nie erlebt, und er gewann durch seine Schilderung historisches Gewicht. Das, wie der Titel sagt, „Unglaubliche“ an der Geschichte ist, dass sie gut ausging – was man nach den Voraussetzungen nie für möglich gehalten hätte. Dass es kein Abenteuer fürs Kino war, sondern eine existenzielle Erfahrung, das machte schon Xenophon klar. Und Wolfgang Will, der den Autor der „Anabasis“ zum verdienten Helden macht, erst recht.
Renate Wagner