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Wolfgang Schreiber: CLAUDIO ABBADO

29.07.2019 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Wolfgang Schreiber:
CLAUDIO ABBADO
Der stille Revolutionär
Eine Biographie
320 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2019

Es war ein über die Maßen glückliches Künstlerleben, schon von den Voraussetzungen her: Claudio Abbado, geboren am 26. Juni 1933 in Mailand, musste sich Musik und Kultur nicht erkämpfen, sie wurde ihm in die Wiege gelegt. Der Vater Geiger, die Mutter Pianistin, beide Lehrer auf höchstem interpretatorischem Niveau (was in Abbado auch die Freude am Lehren weckte, der er im Lauf seines Lebens immer wieder nachgegeben hat).

Alle vier Kinder des Paares ergriffen künstlerische Berufe, und für Claudio, der am Klavier „begann“, war ebenso wichtig, dass die Mutter ihm die Welt der Literatur eröffnet hatte, aus der er lebenslang Bereicherung zog: Es ist dem Autor seiner Biographie zu danken, dass er auch hier genau den Lese-Weg Abbados (wenn auch nicht ganz fehlerfrei) nachzeichnet und später ausführlich erklärt, welch künstlerisches Ergebnis sich aus seinen viel beachteten Musik + Literatur-Zyklen ziehen ließ…

Abbado, gestorben am 20. Januar 2014 in Bologna, begraben im Schweizerischen Sils Maria, war eine außerordentliche Persönlichkeit im Musikleben der letzten Jahrzehnte. Autor Wolfgang Schreiber, langjähriger Musik-Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, der auch von einer langen persönlichen Begegnung mit Claudio Abbado (1998 in Aix en Provence) berichtet, hat nun das erste Buch nach dessen Tod vorgelegt, die erste mögliche Zusammenfassung eines großen Lebens, erfolgreich auf der Suche nach dem Künstler und dem Menschen.

Viele Stationen Abbados sind bekannt – dass ihn Freund Zubin Mehta überredete, zum Studium nach Wien zu gehen, was ein absoluter Glücksfall war, denn Hans Swarowsky hat eine ganze Phalanx von Elite-Dirigenten ausgebildet. Dass er es (im Gegensatz zu Mehta) mit der Karriere langsam angehen ließ. Dass Bernstein und Karajan das Talent dieses ruhigen Norditalieners erkannten und ihn förderten. Dass er Opernstationen in Mailand, in Wien und im Alter noch an den Opernhäusern der Emilia Romagna einlegte. Dass er für die Berliner Philharmoniker als Karajan-Nachfolger unendlich wichtig war – wenn sie auch manchmal seine Probenarbeit „bemängelten“: Abbado sagte wenig, er hatte die schrecklichen, ihm unsympathischen Wutausbrüche Toscaninis bei den Proben in Erinnerung, er wollte nie so sein und war es auch nicht. Er gebärdete sich nicht – obwohl an Bildung vielleicht den meisten Kollegen hoch überlegen – als vollmundiger Besserwisser, sondern hob sich seine Explosionen für die Konzerte auf. Da war er dann von magischer Wirkung.

Dieser private Abbado (man erfährt auch am Rande, diskret behandelt, von zwei Ehefrauen, einer Geliebten und vier Kindern) war ein zurückhaltender Norditaliener, der in keiner Weise dem Klischee des temperamentvollen italienischen Maestro entsprach. Er arbeitete still vor sich hin und hat unendlich viel erreicht – allein die Orchestergründungen, die das Buch aufzählt, allein die Initiativen für Musik des 20. Jahrhunderts (für die Wiener ist ihr Festival „Wien modern“ so etabliert, dass man schon vergessen hat, dass Abbado es einst begründete), räumten ihm einen ganz besonderen Platz in der Musikgeschichte seiner Zeit ein, wenn er dafür auch minimale mediale Präsenz für seine eigene Person suchte. Dazu kam sein (allgemein kaum bekanntes) soziales Engagement, das ihn in späteren Jahren oft nach Südamerika führte. Wie man in aller Stille den Weg des größten Widerstands ging und meist erfolgreich war – das zeigt sich an dieser so unendlich ambitionierten Karriere.

Schreiber hat Abbado zweifellos oft selbst in Konzertsälen und Opernhäusern erlebt, hat mit vielen Zeitgenossen gesprochen, zitiert viel zeitgenössisches Pressematerial. Schade, dass das runde Porträt einer besonderen Persönlichkeit dann doch Defizite aufweist.

Was dem Musikfreund in dieser sonst ausführlichen Nacherzählung von Abbados Künstlerleben schmerzlich fehlt, ist seine Auseinandersetzung mit Sängern. Ein Mann wie er, der so viel Oper gemacht hat, hat auch mit den wichtigsten Sängern seiner Zeit gearbeitet – nicht ein Wort darüber. Die einzige Besetzung, die je erwähnt wird, ist ein Scala-Otello mit Domingo – und den hat Carlos Kleiber dirigiert. Ein unverständliches Defizit.

Schade auch, dass es peinliche Schlampereien gibt – noch niemand hat die Wiener Ringstraße mit Bindestrich geschrieben, wie es hier geschieht, und nachzusehen, wie man „Radetzkymarsch“ richtig schreibt, hätte den Autor oder den Lektor nur einen Klick bei Google gekostet – und apropos: Als „Wiener Lektüre“ von Abbado Kafka, „Eugen Roth“ und Schnitzler aufzuzählen, ist unverzeihlich. Man darf Joseph Roth nicht mit Eugen Roth verwechseln, da müssten alle roten Lichter aufblinken…

In der Diskographie ist oft nicht kenntlich gemacht, ob es sich um CDs oder DVDs handelt (wie etwa bei den Wiener „Lohengrin“ mit Placido Domingo). Und man hätte auch sehr gerne im Anhang eine Zeittafel gehabt, um den schnellen Überblick über dieses Künstlerleben zu gewinnen. Gerade bei einem Mann der so viel und Verschiedenes nebeneinander gemacht hat wie Abbado, wäre es nützlich, wenn man diese Biographie auch zum schnellen Nachschlagen benützen könnte.

Renate Wagner

 

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