Wolfgang Jansen:
MUSICALS
Geschichte und Interpretation
Gesammelte Schriften zum Populären Musiktheater, Band 1
308 Seiten, Waxmann Verlag, 2020
Der Waxmann Verlag, bekannt für seine Behandlung musikalischer Themen, hat eine neue Reihe mit dem Titel „Gesammelte Schriften zum Populären Musiktheater“ eröffnet. Sie dürfte im Moment ausschließlich dem Theaterwissenschaftler Wolfgang Jansen zur Verfügung stehen, der plant, in den nächsten Jahren in sieben bis acht Bänden seine wissenschaftlichen Forschungen, die bisher in Einzelartikeln erschienen sind, hier in Buchform zusammen zu fassen. Offenbar hat er zum Thema des „populären“ Musiktheaters schon so viel Material aller Art zusammen getragen, dass es bereits als Grundlage des 2010 in Freiburg gegründeten Deutschen Musicalarchivs dient.
Im ersten Band – Untertitel „Geschichte und Interpretation“ – geht es also in zahlreichen Einzelaufsätzen um Musical, allerdings nicht um die Entstehung und Entwicklung des Genres, sondern vielmehr um seine Rezeption in Deutschland ab 1945 bis 1970. Wobei die Liste der „Musical-Erstaufführungen“ im deutschsprachigen Raum 1945 mit „Porgy and Bess“ in Zürich beginnt – in den Augen vieler eine Oper, aber doch der Anstoß für eine neue Art des Musiktheaters, die aus Amerika kam.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Deutschland noch viele Komponisten tätig, die auch in der Nazi-Zeit – mit mehr oder minder Nähe zum Regime – gearbeitet hatten. Sie schrieben weiter ihre Werke des leichten Musiktheaters, als wäre gewissermaßen nichts geschehen: Peter Kreuder, Nico Dostal, Lothar Olias, Theo Mackeben, Fred Raymond, Paul Lincke, Eduard Künneke, um nur ein paar von ihnen zu nennen, von denen man die Namen noch kennt.
Ihre Werke, in der Nachkriegszeit quasi im Dutzend billiger hergestellt, haben nicht überlebt – bestenfalls, dass man vereinzelt das eine oder andere hervorholt, zur „Entdeckung“ erklärt und dann merken muss, dass nicht so viel dran ist. Zu ihrer Zeit konnten am besten jene Stücke Kasse machen, die einem Star auf den Leib geschrieben waren, etwa die Werke, die Peter Kreuder schuf, „Madame Scandaleuse“ für Zarah Leander , „Bel Ami“ für Johannes Heesters (beide im Wiener Raimundtheater uraufgeführt) oder „Der Junge von St. Pauli“ für Freddy Quinn von Lothar Olias, was man von Hamburg aus auch überall hin auf Tournee schicken konnte.
Bis in die sechziger Jahre lebten auch noch „Könige“ der Vorkriegszeit, Franz Lehar, Emmerich Kalman, Oscar Straus, Paul Abraham oder Ralph Benatzky, sie schrieben auch noch das eine oder andere Werk, oder man stoppelte aus Johann Strauß-Musik irgendwelche Kunstprodukte zusammen, aber keine Frage, dass Kritik und Publikum sich „Neues“ wünschten. „Abgenutzt“ und „überstrapaziert“ schien das ewig Gleiche von früher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als „Porgy and Bess“ erstmals in Zürich gezeigt wurde, versuchte man zuerst, „Musicals“ des an sich hierzulande bekannten Kurt Weill nach Europa zu bringen, die er, der „Dreigroschenopern“-Berühmte, im anerikanischen Exil geschrieben hatte. Sie scheiterten (bis heute), ihnen mangelt die „Unterhaltungstheater“-Qualität, die er mit Brecht in den Zwanziger Jahren so brillant entzündet hatte.
Die amerikanischen Besatzer versuchten, dem Berliner Publikum 1951 „ihre“ neue Kultur mit einem US-Gastspiel von „Oklahoma“ nahe zu bringen. Das Publikum klatschte, die Ost-Presse geiferte, wie „ekelhaft banal“ und „stümperhaft“ das sei, was man hier als „moderne amerikanische Operetten-Revue“ vorgesetzt bekommen habe…
Es war Cole Porters „Kiss me Kate“, womit im deutschen Sprachraum die Tür für die Akzeptanz des Musicals aufgestoßen wurde, das – vor allem auch in Wien – oft auf das Argument des „Fremden“ stieß. Berlins Kritiker-Papst Friedrich Luft allerdings schrieb nach „Kiss me Kate“: „Hurra! Das Musical ist da! Es kam. Wir sahen, Es siegte.“ Nicht zuletzt, weil das Werk auf unbeschwerte Unterhaltung setzte und unleugbare Qualität, dramaturgisch und musikalisch, zu bieten hatte.
Der Autor geht auch auf sekundäre Erfolge („Fanny“, „Can Can“) ein. Bernsteins „Wonderful Town“ 1956 in der Volksoper schaukelte die Ideologie-Debatte hoch. Was heute niemand auszusprechen wagen würde, damals konnte man im „Neuen Österreich“ lesen, dass „der Import amerikanischer Surplusgüter (…) die bodenständige Kunst nicht in den Hintergrund drängen“ dürfe. Globalismus war noch weit entfernt.
Es war „My Fair Lady“, die den Sieg brachte, ab 1956 ein Broadway- und London-Erfolg mit Rex Harrison und Julie Andrews, der buchstäblich tausende Male lief, eine unwiderstehliche Mischung aus perfekter literarischer Vorlage (G. B. Shaw), hervorragender Dramaturgie und Liedtexten (Alan Jay Lerner) und einer von der Wiener Operettenschule inspirierten Musik (Frederick Loewe). Allerdings sperrten sich beide Autoren gegen eine Aufführung in Deutschland, hatten sie doch viele Verwandte in den Konzentrationslagern verloren. Aber 1961 waren die Widerstände überwunden, im Theater des Westens in Berlin begann ein ziemlich beispielloser Siegeszug des Werks (hoch besetzt mit Karin Hübner, Paul Hubschmid, Alfred Schieske, Agnes Windeck, Friedrich Schoenfelder und Rex Gildo), der per Tournee auch Wien erreichte. Wobei man später hier dann im Theater an der Wien eine „wienerische“ Dialektfassung von Gerhard Bronner (mit Gabriele Jacoby und Josef Meinrad) herstellte. Zumindest „Hello Dolly“, „Der Mann von La Mancha“ und „Anatevka“ konnten, obwohl die beiden letztgenannten Musicals auch einen ernsteren Hintergrund hatten, dann an die Mega-Erfolge anschließen. Mit Schallplatten-Produktionen (auf Deutsch) hat man versucht, deutsche Erfolge finanziell noch zu multiplizieren.
In Deutschland hat man auch immer wieder versucht, das Genre „Musical“ nach zu machen, was aber immer nur punktuell kleinere Erfolge (wenn überhaupt) ergab. Das Theater an der Wien war mit selbst erzeugten Stücken in diesem Genre auch erfolgreich, doch wenn es auch gelungen ist, einzelne Produktionen an andere Aufführungsstätten zu verkaufen – den Stellenwert, den etwa die großen Werke von Andrew Lloyd Webber (als vorläufig letztem Großmeister des Genres) einnahmen, erreichten sie nie. Das wird der Autor vermutlich in einem der nächsten Bände seiner Reihe behandeln.
Wien spielt in diesem Buch überhaupt eine besondere Rolle, zu Recht: das Raimundtheater war, bevor es in den Verband der „Vereinigten Bühnen“ aufging, eine Hochburg populären Musiktheaters, das Theater an der Wien nahm unter Rolf Kutschera (den ein eigener Artikel zu Recht würdigt) eine Pionierstellung unter den Musical-Bühnen des deutschen Sprachraums ein, und die Verdienste von Marcel Prawy an der Volksoper um Musical und speziell Leonard Bernstein sind bekannt (wenn Autor Wolfgang Jansen ihm auch an zahlreichen Beispielen eine höchst oberflächliche Übersetzung der „West Side Story“ – laut Autor der Übergang vom Musical zum seriösen Musiktheater – nachweisen will). Kurz, in Wien, wo es immer um Musik geht, herrschte in der Nachkriegszeit nicht nur die Oper, das „Neue“ kam von anderswo.
Die Aufsätze des Buches sind vielfältig, befassen sich etwa mit den Versuchen, echt „schwyzerdütsche“ Musicals herzustellen, oder auch mit den Versuchen, „moderner“ heimischer Antworten auf zeitgemäßes Musiktheater (wobei die Zeitgemäßheit des Musicals ja faktisch nicht existent ist): Rio Reiser schrieb die „Beat Oper“ namens „Robinson 2000“, uraufgeführt 1967 in Berlin, so vergessen, wie etwas nur sein kann…
Dennoch, den Musikfreund, der alles genau wissen will, werden die vielen Verzeichnisse und die vielen Hinweise auf Zweitrangiges interessieren. Die Theaterwelt besteht schließlich nicht nur aus Höhepunkten, sondern auch aus – Alltag…
Renate Wagner