Fotos: Wiener Festwochen / Avignon
WIENER FESTWOCHEN / MuseumsQuartier, Halle E:
LA CERISAIE (Der Kirschgarten) von Anton Tschechow
Eine Produktion des Festival d’Avignon, 2021
Premiere in Wien: 26. Mai 2022
Auf der Bühne stehen viele, billige Plastikstühle. Und daneben, auf Schienen, große, baumartige Kandelaber, die kleine Lüster tragen. Man könnte sich vorstellen, dass sie ein Symbol für die blühenden Kirschbäume im Kirschgarten der Ljubow Andrejewna Ranjewskaja sind. Wenn die Kandelaber am Ende des dritten Aktes weggeschoben werden, weiß man, dass man mit seiner Vermutung recht gehabt hat.
Nicht die einzige „Verfremdung“ an diesem seltsamen Theaterabend aus Avignon, der von den Wiener Festwochen mitproduziert wurde und nun bei seiner Premiere hierorts großen Zuspruch fand. Und viel Publikum – wer sagt, dass die Wiener nicht mehr ins Theater gehen? Wenn sie neugierig sind (in diesem Fall wohl auf Isabelle Huppert), dann füllen sie die nicht gerade kleine Halle E im MuseumsQuartier bis auf den letzten Platz.
Man sah eine Inszenierung des 45jährigen Portugiesen Tiago Rodrigues, der in den letzten Jahren in Frankreich große Erfolge hatte und ab diesem Sommer das Festival in der Papst-Stadt Avignon übernehmen wird, wo er im Vorjahr „seinen“ Kirschgarten heraus gebracht hat. Wahrlich mehr sein Kirschgarten als der von Tschechow. Zweieinviertel pausenlose Stunden hoch stilisiertes Theater, das über weite Strecken durchhängt und dann doch wieder fesselt, manchmal fasziniert und manchmal enttäuscht.
Das symbolische Bühnenbild (Fernando Ribeiro), dessen Sessel irgendwann zu einem wilden Haufen gestapelt werden, und die schäbigen Alltagskostüme (José António Tenente) zeigen schon, dass es Russland nur im Text gibt, nicht als reale Welt. Ein noch junger Mann, PoC, erklärt zu Beginn ins Publikum hinein, man werde nun Tschechows „Kirschgarten“ spielen. Und beginnt sich mit dem Dienstmädchen Dunjascha zu unterhalten. Allerdings deklamieren sie ihre Texte mehr, als dass sie miteinander sprechen – es hat ein wenig vom alten Lehrstück-Charakter, wie die Figuren (die ja keine reale Welt haben, in der sie sich bewegen) hier „ausgestellt“ werden.
Auf der Bühne gibt es auch noch zwei Musiker mit Keyboard, Schlagzeug, Gitarren (Manuela Azevedo, Hélder Gonçalves), und es wird sehr viel musiziert – der Regisseur hat „gedichtet“, Gonçalves modisch flott komponiert, und wenn die Ranjewskaja ankommt, singen alle schier ohne Ende, dass sie nun endlich da ist…
Diese Ranjewskaja, wahrlich eine der ganz großen Tschechow-Frauenrollen, spielt nun Isabelle Huppert – schlank, mit ihrem glatten roten Haar, in Hosen, eigentlich unscheinbar, nicht das funkelnde Zentrum, um das sich alles dreht. Anfangs sehr interessant, weil offenbar so müde und nicht willens, sich mit ihrer Umgebung auseinander zu setzen. Später von der Regie zu übertriebenen Bewegungs-Aktionen angehalten, vordergründig sentimental in der Erinnerung an ihren toten Sohn, erst wieder packend, wenn sie angesichts ihres verkauften Gutes erstarrt. Doch das, was Tschechow an ihr zeigt, die gedankenlose Oberflächlichkeit einer einst herrschenden Klasse, die schuldhaft mit Achselzucken in ihren Untergang geht – davon keine Spur. Innerhalb eines Puzzles von Figuren, von denen jede für sich selbst zu stehen scheint, spielt sie keine besondere Rolle.
An der Besetzung fällt auf, wie leicht es die Franzosen mit jener „Diversität“ haben, um die sich etwa das Burgtheater so krampfhaft bemüht. Der Großteil der Darsteller wird von dem französischen Nordafrika gestellt (aus historisch guten Gründen natürlich), die perfekt Französisch sprechen und perfekte Darsteller sind, so dass man sich überhaupt nicht die Frage stellt, was sie in Russland (zumal es dieses hier nicht gibt) eigentlich sollen.
Es ist fesselnd, wenn Lopachin nicht der übliche teils angeberische, teils von seinen Komplexen geschüttelte reiche Mann ist, sondern ein sympathischer junger Mann schwarzer Hautfarbe (wunderbar: Adama Diop) – wenn er nämlich daran denkt, was seine leibeigenen Vorfahren (die Übersetzung verwendet das Wort „Sklave“), die das Herrenhaus nicht betreten durften (nicht einmal die Küche), dazu sagen würden, dass ihr Sohn nun dieses Gut gekauft hat… dann bekommt dieser Aspekt eine neue und besondere Bedeutung. Auch die beiden PoC-Töchter der Ranjewskaja, Alison Valence (Anja) und Océane Caïraty (Warja), setzen solcherart besondere Akzente. Ebenso geben Ranjewskajas Bruder Gajew (nobel: Alex Descas) und weitere starke Nebenfiguren (Grégoire Monsaingeon, Tom Adjibi, Nadim Ahmed) dem Abend „Farbe“.
David Geselson als ehemaliger Lehrer des verstorbenen kleinen Sohnes ist von Tschechow auserkoren, vor sich hin zu philosophieren, die Gouvernante (Isabel Abreu) kann ihre Funktion im Stück so gut wie nie überzeugend klar machen (das liegt schon an Tschechow), das Dienstmädchen (prächtig lebendig: Suzanne Aubert) hingegen sehr. Der alte Firs (Marcel Bozonnet) ist immer eine große Rolle, wenn sein finales Sterben auch nicht so effektvoll inszeniert ist, wie es möglich gewesen wäre.
Ein Tschechow, für dessen Kirschgarten Kristall-Leuchter stehen. Wo sinnlos viel musiziert wird und jede Figur ihr eigenes Spiel zu spielen scheint. Keine Frage, dass der Regisseur bewusst die Einsamkeit dieser Menschen im seelischen Niemandsland zeigen wollte. Immerhin war der Abend eine interessante Begegung. Doch man kann natürlich auch das Stück inszenieren – und möglicherweise für die Zuschauer mehr damit erreichen als ein eindrucksvolles Stil-Kunststück. Nämlich eine Menschengeschichte.
Renate Wagner