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NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing
Premiere: 7. April 2017
Es hätte nicht schiefgehen müssen. Schon des Stückes wegen, das nicht nur eines der besten deutscher Sprache ist, sondern möglicherweise eines der besten, das je geschrieben wurde. Und so unheimlich aktuell – als ob nicht heute, so wie damals, 1192 n.Chr. in Jerusalem, wo Lessings Stück spielt, die Konfessionen unverändert hass- und vorurteilsvoll aufeinander prallten. Ja, „Nathan der Weise“ könnte (mit wenigen Abstrichen) auch heute sein, und Ansätze der Inszenierung im Volkstheater machen das deutlich.
Man kann Nathans abgebranntes Haus auf eine Drehbühne stellen (Bühne: Denise Heschl, Jakob Brossmann), nur dass – kurz eingewendet – der nach allen Seiten offene Raum sehr schlecht für die Akustik, also die Verständlichkeit der Schauspieler ist. Da ist im ersten Stock ein Eckchen für Saladin, da versucht der Tempelherr, sich in der Ruine einen Schlafplatz zu schaffen, da wohnt man bei Nathan, ungeachtet seines Reichtums, auch nicht opulent (und die Kostüme, Denise Heschl, sind schlicht gesagt einfach heutig-scheußlich und die Musikdramaturgie nervt schlechtweg), aber grundsätzlich könnte das Ambiente als Gleichnis funktionieren.
Zumal hier mit Lessings Sprache großteils klar und auch analytisch vorgegangen wird, so natürlich und lebendig, wie es möglich ist, kein Klassiker, sondern einer, der uns etwas zu sagen hat – „Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.“ „Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen – aber selten etwas Besseres.“ „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?“ Gotthold Ephraim Lessing, einer der bewundernswertesten Köpfe, die die Deutschen je hervorgebracht haben, hat so vieles auf den Punkt gebracht. Ganz abgesehen von seinem Wissen über Juden, Moslems und Christen, die er schmerzlich aneinander prallen lässt.
Die Inszenierung des Volkstheaters stammt von Nikolaus Habjan, dem Puppen-Habjan, der zweifellos seine Fans und sein Publikum hat. Die sollten in einem eigenen Theater bedient werden und ihn bewusst aufsuchen. Seine Puppen-Spiele normalen Stücken aufzuzwingen und diese Inszenierungen wiederum einem normalen Theaterpublikum hinaufzudrücken, steht Anna Badora natürlich frei – kann nur schrecklich lästig und überflüssig wirken und sogar zerstörerisch. Wie hier.
Gerade weil Nikolaus Habjan, wie bei der Einführung zu dem Abend angeblich betont wurde, sich mit dem Einsatz der Puppen diesmal „zurückhielt“, merkt man erst, wie überflüssig sie sind, wie affektiert sie den Fluß des Stücks stören. Wenn da anfangs eine Puppe aus der Treppe auftaucht und mit Nathan spricht, hält man sie ihres Textes wegen erst für Al Hafi, den Derwisch (hätte man den Besetzungszettel genauer gelesen, wüsste man, dass er gar nicht vorkommt), und erst später stellt sich heraus, dass dieser Kopf als Alter Ego von Nathan gemeint ist. Wozu? Seine Monologe könnte er, auch wenn sie teils Zwiegespräche mit sich selbst sind (man kennt das jüdische „Einerseits, andererseits“ auch von Werfels Jacobowsky), mühelos selbst halten. Und wenn dann der Patriarch als Puppe im Rollstuhl erscheint (mit der Stimme von Sittah gesprochen!!!), könnte jeder halbwegs potente Echt-Schauspieler das besser und eindrucksvoller. Warum, zum Teufel, müssen diese Puppen sinnlos und störend bei Lessing hineinpfuschen?
Wenn man sich – gerne! – an seine besten Nathans erinnert, an Ernst Deutsch, Romuald Pekny, Attila Hörbiger, dann ist Günter Franzmeier ein Nathan der anderer Art, keinesfalls der Weise, auch nicht der Souveräne, sondern ein Gehetzter. Er muss ja schon am Anfang mit dem üblichen Koffer auftreten, den Juden auf der Bühne geradezu klischeehaft tragen (na gut, er kommt von einer Reise) – aber wenn man das Stück nicht kennt, weiß man eigentlich nicht, warum er gleich zu Beginn Leichen zudeckt: Er tut es erstens in Erinnerung an seine tote Frau und die toten sieben Söhne, er tut es im Hinblick auf das Ende, wo nicht alle glücklich sind wie bei Lessing, sondern alle tot sein werden – sinnlos, ohne irgendeinen logischen Zusammenhang. Wenn man schon das Happyend der zusammen geführten Familie nicht glaubt (obwohl das in wirren Kriegszeiten gar nicht sooo unwahrscheinlich ist), dann reicht es eigentlich zu inszenieren, was in Lessings Text steht: Dass die glückliche Familie nämlich auf Nathan vergisst – und der Jude allein außen vor bleibt. Aber bei Habjan müssen alle sterben. Und der Nathan des Günter Franzmeier darf nichts anderes als eine verwirrte, konfuse Seele sein, statt ein Mann, der in sich ruht. Glücklicherweise ist er ein so guter Schauspieler, dass er auch damit die Figur einigermaßen glaubhaft auf die Bühne stellt.
Auch dem Saladin des Gábor Biedermann fehlt die Souveränität, die Lessing diesem historisch so bemerkenswerten Fürsten gab – doch die Unruhe, Unsicherheit, die dieser Mann ausstrahlt, machen ihn in diesem Fall interessant. Dafür bekommt seine Schwester Sittah durch Steffi Krautz schärfere und auch negativere Züge denn je.
Es ist legitim, mit Theaterfiguren zu experimentieren – was geben sie her, wenn man sie anders betrachtet? Recha (Katharina Klar) als Trotzkopf, die sich auch wütend am Boden wälzt; Daja (Claudia Sabitzer) weit weniger als gute Seele denn als egozentrische Eiferin; der Klosterbruder (Stefan Suske) nicht, wie so oft gesehen, als liebenswert-drollig-komisches Mönchlein, sondern als abgeklärter Mann, der eigentlich nur seine Ruhe haben will.
Christoph Rothenbuchner, Stefan Suske
Als überzeugendster unter allen steht da Christoph Rothenbuchner als Tempelherr. Egal, ob er die Kreuzritter-Uniform tragen würde oder die abgerissene Kampfmontur von heute, er stimmt in jedem Ton, in jedem Detail, in jeder Regung der Figur, trägt die Zweifel hinein in die Anständigkeit des Charakters, die Lessing ihm gibt (denn er hätte nie neben einem großartig weisen Juden und einem toleranten Moslem nur „böse“ Christen auf die Bühne gebracht – das hätte ja auch der Ring-Parabel widersprochen…).
Vieles an dem Abend hatte gewaltiges Potential. Hätte Nikolaus Habjan auf seine unnötigen Puppen und auf viele Mätzchen verzichtet, die nur der Angst geschuldet sind, man könne nicht zeitgeistig und regietheater-konform genug sein – das hätte ein „Nathan“ für hier und heute werden können. Arabische Übertitel mögen lobenswert sein, aber sie machen es allein noch nicht.
Renate Wagner