WIEN: Volkstheater: Mathilde Monnier / Dance On Ensemble & Judit Varga: „MUSIQUE – In the Spirit of Johann Strauss“
Die Vielfalt der Beiträge zum Johann-Strauß-Jahr 2025 ist faszinierend. Zwei wiederum sehr individuelle, und hier sehr persönliche Positionierungen trafen sich mit der Zusammenarbeit der renommierten französischen Choreografin Mathilde Monnier und der in Wien lebenden und lehrenden ungarischen Komponistin und Pianistin Judith Varga. Erstere lud das in Berlin ansässige Dance On Ensemble, das TänzerInnen ab 40 eine neue künstlerische Heimat bietet, ein, um in „MUSIQUE“ den tänzerischen Part zu übernehmen.
Sieben Stücke komponierte Judith Varga für dieses Auftragswerk von „Johann Strauss 2025 Wien“ in Kooperation mit ImPulsTanz, das hier seine Uraufführung erlebte. Zu Strauß hat sie eine sehr persönliche Beziehung, wie sie im Pressegespräch ein paar Tage vorher berichtete. Sie spielte während ihres Studiums zu dessen Finanzierung jahrelang in Cafes seine Musik am Klavier. Was neben etwas Geld auch Kenntnis und Vertrautheit einbrachte.
Ihre Kompositionen für „MUSIQUE“ nun enthalten mehr und weniger Strauß. Nur selten sind bekannte Melodien erkennbar. Der Donauwalzer grüßt gebrochen zitiert aus einer Varga’schen Komposition, zum Beispiel. Ein anderes der berühmt-beliebten Werke ist der Schatzwalzer. Varga setzt den Geist von Johann Strauß ans Disklavier und lässt ihn spielen und improvisieren, ganz wie im Kompositionsprozess dieses Walzers. Auch der Dreivierteltakt ist nicht der vorherrschende Rhythmus ihrer Stücke. Wenn, dann in fast verwischter Form, ohne die so typische Betonung der Eins. Bis hin zum Jazz reichen ihre Ausflüge, organisch eingebunden in ein Strauß-Varga-Universum.
Die Eleganz aber und die Leichtigkeit, das Raffinierte der Strauß’schen Kompositionen hat Varga als Stilmittel in die ihren übernommen. Die Feinheit der harmonischen Folgen und in der Melodieführung vertieft Varga noch, indem sie äußerst subtil und unter weitgehender, aber nicht vollständiger Vermeidung starker Akzentuierungen vor allem mit Stimmungen und Energien weite Assoziationsräume öffnet. Dass die Komplexität von Orchesterwerken in deren Klavierversionen reduziert werden muss, macht Varga mit ihren Kompositionen für zwei Klaviere zum Teil wieder rückgängig. Und selten legt sie sogar elektronisch bearbeitete, kurze Orchester-Aufnahmen und rein elektronischen Sound zu ihren Piano-Klängen.
Das so genannte Disklavier, ein Hybrid aus Konzertflügel und Elektronik, mit dem sie im letzten halben Jahr lebte und arbeitete, wird ihr auf der Bühne zum ebenbürtigen musikalischen Partner. Klar, sie spielte ein, was der so programmierte „Selbstspieler“ später auf Befehl, gesendet vom Notebook neben ihr, wiedergibt. Und Judith Varga nutzte die technische Möglichkeit, das Spiel von bis zu acht Händen gleichzeitig wiedergeben zu lassen. Mit ihrem eigenhändig live gespielten Klavier dazu erzeugt sie so ungemein komplexe, aber ebenso ganz zarte, von ihr oder dem Phantom-Partner allein gespielte Klangbilder.
Der Geist von Johann Strauß scheint am Disklavier zu beginnen. Erst später steigt Varga ein. Ihre Kompositionen zeichnen Spannungs- und dynamische Bögen, gehen tief in das Spüren (lassen) von Zuständen und Ahnungen, zerbrechlich, fein, sphärisch. Der Mensch ist seit der Strauß-Ära ein deutlich anderer geworden. Dem trägt Varga mit Ihrer Musik Rechnung. Alte Musik und einstige Werte sind nicht tot. Sie schimmern wie aus dem kollektiven Unbewussten Aufsteigendes in Vargas Musik.
Mathilde Monnier choreografierte Zustände. Das dem Walzer eigene ewige Drehen erzeugt den Verlust von Orientierung und Kontrolle. Heute wohlbekannte und verbreitete Phänomene. Und auch Trance! Der Tanz der sechs mit dem Dance On Ensemble ihrer Altersdiskriminierung im zeitgenössischen und klassischen Tanzkunst-Betrieb entgehenden TänzerInnen lebt von gestischer Abstraktion, Präzision und gleichzeitig ihren ausgeprägten individuellen Künstler-Persönlichkeiten, die von der Bühne strahlen zu lassen die Choreografie hinreichend Gelegenheit gibt.
Ihre bis auf das Ende und eine kurze Berührung mittendrin durchgehend präsentierte Vereinzelung berührt schmerzlich. Sie ist neben der heute dominierenden Allein-Tanz-Kultur – ganz im Gegensatz zum Paartanz in der Walzer-Disco von einst – auch Symbol für die Kämpfe, die älter werdende TänzerInnen mit sich und der Kunstwelt auszutragen haben. Der Raum, den sie mit gestreckten Armen und mit ihren Bewegungen in diesem markieren, ist der des Individuums, ist Selbstbehauptung und soziale Geste in einem.
Die eleganten Kleider von damals, feine Roben für die Damen und Fräcke bei den Herren, sind zu übergroßen, nur in ihrer Färbung leicht verschiedenen Uniformen geworden, taugend auch als Fetzen, Wickel, fliegendes Textil, vor die Körper gehalten als Tanzpartner und sehnsuchtsvoll-verfluchtes Spiegelbild der eigenen Einsamkeit und Verlorenheit im Heute. Die TänzerInnen selbst tragen anonymisierendes legeres Schwarz (Kostümbild: Laurence Alquier).
Die Charaktere der sieben Musikstücke von Judith Varga variieren, sie provozieren eine große Bandbreite von Stimmungen, die Bewegung werden wollen. Die sechs TänzerInnen tanzen Erinnerung und Sehnsucht, verschiedene Herangehensweisen an kulturelles Erbe, sie synchronisieren sich in Schwingungen, tanzen wie verlorenen Geister auf einem Ball mit vielen leeren Stühlen und ohne jede Kommunikation untereinander, sie füllen die langen Phasen der Stille mit den Geschichten, der Erfahrung und dem Wissen, die ihre gereiften Gesichter und Körper erzählen.
Sie machen Selfies mit die innere Wahrheit verdeckenden Grimassen, sie persiflieren posend verstaubte Attitüde, fügen queeres Sein in ihre/unsere Welt, kämpfen mit durch Kleider repräsentierte Normierungen, in die sie nicht passen können und wollen, sie geben sich dem Rausch hin. Sufi. In ihren Soli zeigen sie ihre Kraft, in den Gruppen-Sequenzen ihre ungeheure Sensibilität und Präzision. „MUSIQUE“ stellt Zeitgeister nebeneinander. Mit dem kollektivierten Vergnügen von damals kann der heutige Individualismus wenig anfangen.
Die Wiener Bälle von damals scheinen durch Musik, Tanz und die halbtransparenten Kleider wie ein Echo aus der Ferne, schon fast verhallt und doch noch kraftvoll genug, um mit den leisen, selten lauten Sehnsüchten, Wünschen und ungelebten Leidenschaften in den sechs TänzerInnen zu resonieren. Judith Varga, Mathilde Monnier und die wunderbaren TänzerInnen des Dance On Ensembles treffen mit dieser Arbeit ins Herz der Ursehnsucht des Menschen, derer er sich nicht entheben kann: geliebt zu werden und lieben zu dürfen. The Missing Step.
Es gibt viele berührende, ja bewegende Momente. Am Ende aber finden sich drei Paare, endlich, und kippen die Achse um 90 Grad, rollen langsam am Boden zu wundervoll gefühlvoll ausklingender Musik. Was bleibt im jubelnden Publikum, ist eine Wärme, wie man sie sehr selten spürt nach einer Vorstellung. Großartig!
Mathilde Monnier / Dance On Ensemble & Judit Varga mit „MUSIQUE – In the Spirit of Johann Strauss“ am 12.05.2025 im Volkstheater Wien.
Rando Hannemann