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WIEN / Volkstheater: LIEBES ARSCHLOCH

Von der Schwierigkeit des Seins oder Der Müllhaufen der Befindlichkeiten?

15.09.2024 | KRITIKEN, Theater

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Fotos: Volkstheater / Marcel Urlaub

WIEN / Volkstheater: 
LIEBES ARSCHLOCH von Virginie Despentes
Österreichische Erstaufführung
Premiere:  14. September 2024 

Von der Schwierigkeit des Seins
oder
Der Müllhaufen der Befindlichkeiten?

Der jüngste Roman von Frankreichs Parade-Feministin Virginie Despentes besteht aus Briefen, Verzeihung, natürlich E-Mails, und zeigt den Ehrgeiz, mit fast allem aufzuräumen, was heutige Intellektuelle umtreibt. Süchte (Alkohol, Heroin) gegen Lebensangst oder Langeweile, soziale Entwicklungen und Repressionen, #metoo und Feminismus und natürlich die allmächtigen Sozialen Medien in einer Welt, die sich mehr und mehr im Netz und weniger im Leben abzuspielen scheint. Und wo „Net“ ist, ist auch der Haß im Netz. Damit beginnt es…

Die Protagonisten Oscar und Rebecca kennen sich seit ihrer Kindheit, kommen aus der sozialen Unterschicht in einem verwahrlosten Vorort, haben beide Karriere gemacht, er als Schriftsteller, sie als Filmschauspielerin, und nun sind beide ziemlich am Ende – er, weil die Belästigungs-Anklage einer jungen Frau ihn erledigt hat, sie, weil sie 50 wird und es für Schauspielerinnen, zumal auf der Leinwand, schon früher out ist.

Er trinkt, sie spritzt Heroin, er schreibt ihr ein Haßmail, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, sie antwortet entsprechend niederträchtig, als Arschlöcher zeigen sich zu Beginn beide. Bis dann ein Briefwechsel daraus wird, der außer bitteren Wahrheiten menschlichere Töne anklingen lässt … am Ende fast bis zum Kitsch. Was als die Schwierigkeit des Seins anhebt, sich nach und nach zum Müllhaufen aktueller Befindlichkeiten aufhäuft, nimmt schließlich die Wendung zu einer seltsamen Versöhnlichkeit… die Zeitkritik geht in den Frauenroman ein.

Das alles ist Text, man könnte es sich auch als Hörspiel vorstellen. Dergleichen auf die Bühne zu bringen, ist nicht so einfach, Regisseur Stephan Kimmig, dessen einstige Burgtheater-Arbeiten abrupt abrissen (dergleichen hat meist mit Direktorenwechsel zu tun), geht in einem Bühnenbild, das Räume aus Holz auf die Drehbühne stellt (Bühne Katja Haß, Kostüm Sigi Colpe) nicht ungeschickt mit der Sache um. Dass die Mails zu Dialogen werden, wobei meist einer von ihnen per Video-Live-Kamera auf irgendeiner Wand landet, ist der Stil der Zeit. Immerhin dürfen die Darsteller auch mehr und mehr als ihr menschliches Selbst agieren.

Bis zur Pause gibt es nur Geplänkel, und man fragt sich manchmal, ob man Zeitanalyse vorgesetzt bekommt oder nur modernistisches und meist schon abgegriffenes Blabla. Nach der Pause erhält der Abend durch eine dritte Person einen Impuls: Zoe, die junge Frau, die Oscar des Stalkings zieh. Wie sie wütend zischt, dass Frauen sich nie wieder etwas gefallen lassen werden, wirkt sie, als würde sie alle Männer am liebsten zum Frühstück verspeisen. Später darf sie nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie („Scheiß Freud!“) dann noch starke Zweifel daran äußern, wie der Feminismus sich entwickelt hat – weil er nämlich in seinen schlechten Eigenschaften ganz „männlich“ geworden ist…Das zweite veränderndes Handlungselement ist Corona und wie die Seuche auf das Verhalten und auch das Bewusstsein  der Menschen einwirkte.

Kimmig leistet einiges darin, seinen Darstellern großartige Leistungen abzufordern, lässt den Abend (mit zwei Stunden 40 Minuten) aber zu lange ausufern, da sind ermüdende Leerstellen darin, da will er auch (um den „Hörspiel“ entgegen zu wirken) zu viel an Action /Körperarbeit zu Popmusik für die Interpreten) nicht immer sinnstiftend einbringen. Knapp zwei Stunden ohne Pause wäre die bessere Entscheidung gewesen.

Immerhin hat man Birgit Unterweger für die Rebecca, die ein Meisterstück an geistiger und körperlicher Beweglichkeit liefert, bitteren Hohn und Nihilismus versprüht und sich dennoch für ganz normale menschliche Sehnsüchte öffnet.

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Paul Grill, erstmals am Haus, ist ein Schauspieler von Präsenz und Ausdrucksreichtum, von dem man gerne mehr sehen möchte. Und die Jung-Frauen-Wut, die Katana Irem Gökçen explodierend versprüht, hat es in sich.

Nicht alles, an dem Abend lohnt sich, aber den kräftigen Premierenbeifall hat er ohne Zweifel verdient.  

Renate Wagner

 

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