Fotos / Volkstheater: Marcel Urlaub
WIEN / Volkstheater:
IN DEN ALPEN von Elfriede Jelinek
APRÈS LES ALPES von Fiston Mwanza Mujila
(Uraufführung)
Premiere: 17. Februar 2023
Im Jahr 2000 ereignete sich die Katastrophe von Kaprun – 155 Menschen starben, als die Bergbahn in einem Tunnel in Brand geriet. Dafür, dass offenbar ein Heizluftgerät, das nie in einen Wagen hätte eingebaut werden dürfen, die Katastrophe verursachte, wollte niemand die Verantwortung übernehmen. Elfriede Jelinek, damals noch nicht Nobelpreis-Trägerin (der kam erst 2004), hat immer sensibel auf aktuelle „politische“ Ereignisse ihrer ungeliebten Heimat reagiert und schrieb sich den Zorn über das Geschehen in zwei Stücken von der Seele: 2002 mit „In den Alpen; 2003 mit „Das Werk“.
Letzteren Text hat die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard im Jänner 2020 im „Frauenraum“-Theater Kosmos inszeniert, allerdings sehr parodistisch, mehr Literatur-Satire als Kaprun-Stück. Aber die Autorin war offenbar so angetan davon, dass das Volkstheater nun das zweite Werk zum Thema, „In den Alpen“, ansetzte, allerdings angereichert um ein weiteres Stück, das sich vage zumindest in derselben Alpen-Region begibt…
Autor ist der im Kongo geborene, in Graz lebende Autor Fiston Mwanza Mujila, von dem man die nicht sehr überzeugende „Zur Zeit der Königinmutter“ im Februar 2019 im Akademietheater gesehen hat. Sein „Après les Alpes“ ist da schon interessanter – auch dass in unserer Welt, wo „Kolonialismus“ zu den Reizworten zählt, das Problem hier umgedreht wird: Nicht die weißen Besatzer beuten heute mehr gnadenlos die unterdrückten Völker der Dritten Welt aus, sondern die reich gewordene Dritte Welt möchte – die Alpen kaufen… Und das erzählt uns ein Autor, dessen Volk unter den belgischen Kolonialherren mehr als gelitten hat.
In zweieinviertel pausenlosen Stunden gibt es zuerst die Jelinek. Man kennt ihre „Textflächen“, die es den Regisseuren erlaubt, damit zu machen, was immer sie wollen. Denkt man auch an das Publikum, besteht die Aufgabe darin, den Text so auf die einzelnen Darsteller zu verteilen, dass sich etwas wie theatergerechte Dynamik entwickelt.
Denn an sich leben diese Jelinek-Stücke, die keine sind, vom Text – der stellenweise von bestrickender Kraft ist, oft aber auch einfach nur Text. Immerhin transportiert sich der Zorn der Autorin über das Geschehen und über das Wegschieben der Verantwortung. Sie fragt nach den Toten und ihren Empfindungen, und wenn sie auch nicht so direkt und fetzig anklagt wie einst der Beschimpfungs-Kaiser Thomas Bernhard, spielt sie ihre Verachtung über österreichische Verhaltensweisen doch oft brillant über die Bande (dass Juden und Zwangsarbeiter aus der Kaprun-Vergangenheiten da auch vorbeischauen, versteht sich).
Mit einem Dialog über das „stille Örtchen“, später auch unverblümt „Scheißhaus“ genannt (und nicht ganz logisch im Gefüge) kippt der Abend in den zweiten Teil von Fiston Mwanza Mujila, der seinem Gastland Österreich eine Horrorvision an die Wand malt. Da mögen die eingesessenen Salzburger Älpler die Skifahrer- und Skilehrer-Tradition ihrer Familien noch so hoch halten – was, wenn Tourismus gestern war, weil er nicht das große Geld bringt? Was aber an Mineralien in den Alpen steckt – wenn man das an die großen Konzerne verkaufte, das wäre dann wirklich das Millionen-Geschäft, nicht wahr? Nein, Gastarbeiter bräuchte man nicht, die Einheimischen können ja im Berg arbeiten. Und wenn Not am Mann ist, dann nimmt man halt Kinder. Die werden den Kapitalisten schon nicht ausgehen…
Sprachlich nicht an die Jelinek heranreichend, lebt dieser Teil von der brutalen Wucht der schnurgeraden Formulierungen und den steten Wiederholungen, dazu viel Musik und Katastrophen-Videos. Regisseurin Claudia Bossard hat sich bei der Jelinek und angesichts der großen Volkstheater-Bühne, die schließlich nach „Action“ verlangt, schwer getan, den ersten Teil des Abends szenisch zu beleben (dass man nach und nach das Bühnenbild zerlegt, ist nicht sonderlich einfallsreich).
Für den Mujila-Teil des Abends schiebt Bühnenbildnerin Elisabeth Weis eine jener Riesentreppen herbei, die man auf Flughäfen zum Einstieg und Ausstieg der Fluggäste verwendet. Eher schräge Kostüme liefert Mona Ulrich, der Wandel der Damen zu stilisierten Reifröcken ist nicht unbedingt einsichtig. Video und Sound von Annalena Fröhlich spielen eine große Rolle.
Es sind die beiden Darstellerinnen, die den Abend vorantreiben – erst Anna Rieser, die gewissermaßen die Stimmen der Toten bei Jelinek choreographiert, dann Julia Franz Richter, die gewaltig die Anliegen des Kapitalismus vertritt. Schade, dass die Tonanlage des Hauses nicht ganz ausgewogen ist und die an sich guten Sprecher dennoch immer wieder für das Publikum Verständlichkeitsprobleme aufwerfen.
Von den vier Herren darf Nick Romeo Reimann (der einzige junge Mann unter ihnen) zeigen, dass er in seinem Zweitberuf als Performance-Künstler auch Körperbeherrschung versteht – seine schier unendlichen Sprünge von der Leiter auf eine Matte sind beängstigend anzusehen und vielleicht nicht ganz ungefährlich).
Uwe Rohbeck wirkt so naiv und muss im zweiten Teil mit lächelnder Selbstverständlichkeit den Ausverkauf der Alpen (und überhaupt unserer Welt) vertreten. Für Christoph Schüchner und Stefan Suske ist an diesem Abend weniger abgefallen.
Es ist eine grimmige Satire, die man da vorgesetzt bekommt. Und doch: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode – wer weiß, zu wie viel „Ausverkauf“ die Zukunft bereit sein wird? Solcherart war der zweite Teil des Abends der interessantere, zumal er auch szenisch mehr Kraft zeigte als der Jelinek-Teil. Von der man doch ruhig einmal etwas Neues bringen könnte – sie schreibt ja schließlich Stücke auf dem Fließband. Viel Beifall.
Renate Wagner