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WIEN / Volkstheater: ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE

16.09.2021 | KRITIKEN, Theater

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Foto: Volkstheater / nikolaus-ostermann

WIEN / Volkstheater: 
ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE
nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor M. Dostojewski
Premiere: 15. September 2021  

Dostojewskis Romane für die Bühne waren lange im festen Besitz von Frank Castorf. Vor genau 20 Jahren hat man dessen Version von „Die Erniedrigten und die Beleidigten“ bei den Festwochen gesehen – er brauchte allerdings fünfeinhalb Stunden dafür, da ist das Volkstheater mit „nur“ zweieinhalb Stunden Spieldauer (auch wenn sie verdammt lang wirken) schon christlicher. Im übrigen zerfasert man das Werk bei Kay Voges genau so wie einst bei Castorf, also vergessen wir den originalen Dostojewski. Der findet sich handlungs-zersplittert in offenbar sinnfreien Aktionen bestenfalls gelegentlich wieder.

Die meiste Zeit ertönt Live-Musik, ein Musiker namens Xell lässt am linken Bühnenrand Minimalistisches auf dem Klavier und einem Zupfinstrument (eine Balalaika, wenn man richtig gesehen hat?) hören, wenn nicht Tschaikowskys Klavierkonzert gelegentlich ins Geschehen brüllt oder Pop-Musik eingespielt wird.

Der Beginn ist wieder einmal eine Geduldprobe für das Publikum, viele stumme, gezappelte Einzelszenen, bis dann offenbar alle Protagonisten auf der Bühne sind – was zu Beginn nicht viel aussagt, weil man ja nicht weiß, wer wer ist. Das zu erkennen, wird allerdings auch später nicht leicht gemacht.

Da es keine weitere Auskunft gibt, kann man davon ausgehen, dass Regisseur Sascha Hawemann sich seine Fassung des Romans selbst erstellt hat. Wenn alle Protagonisten zu Beginn Zettel zurecht streichen und anfangen aus dem Roman zu lesen, ergibt sich in der Folge der stilistische Mix aus erzählten Szenen und Dialogen. Das ergibt noch immer keine Handlung, denn dass Dichter Wanja die Natascha liebt, diese wiederum den Aljoscha, der nach Willen seines Vaters des Geldes wegen Katja heiraten soll, wird nicht übersichtlicher, indem gleich drei Herren sich den Wanja teilen, auch Aljoscha ist nicht immer derselbe, und die Damen tauschen gleichfalls die Rollen. Warum? Vermutlich gibt es irgendwelche vage Erklärungen dafür (mit Worten lässt sich trefflich ein System bereiten), wirklich sinnvoll – zumal für einen Theaterabend – ist es nicht.

Aber man kann sicher sein, dass es dem Regisseur nicht um den Roman geht, sondern eher darum, welchen Affenzirkus man im Theater aufführen kann, wenn man Darsteller sinnlos am Boden kriechen und sich zuckend winden lässt, plötzlich tanzen (eine Dame muss das fertigbringen, während ihr das Unterhöschen um die Knöchel hängt), sich mit Farbe beschmieren und sinnlose Zeichen an die Wand schreiben…

 Kurz, das ist das erratische Verhalten, das sich modernes Theater nennt und unbegreiflicherweise vom Publikum hingenommen wird, statt dass irgendjemand zur Bühne hinaufbrüllt: „Hört doch endlich auf mit dem Blödsinn!“ Dass man dem Regisseur und dem Darstellern (die hier die zweieinhalb Stunden Wahnsinnsaktionen ohne Pause bewältigen!) höchste handwerkliche Kompetenz gerne zugesteht, ändert nichts an den Willkürakten.

Wobei einzelne Elemente des Romans (der Zynismus des Fürsten, der romantische Altruismus der Katja) dazu benützt werden, den Zuschauern politische Botschaften (mit durchaus heutigem Vokabular) aufzudrücken. Aber es gibt in dem nicht wirklich sinnhaften Bühnenbild von Wolf Gutjahr (jede Menge Gegenlicht und folglich programmierte schlechte Sicht für die Zuschauer) zu viel Erratisches, als dass die „Moral“ greifen würde.

Immerhin kann man an diesem Abend ein paar beeindruckende Leistungen sehen, voran der massige Andreas Beck als Fürst, der sich für die Härte seiner Lebensbetrachtung durchaus Gehör verschafft. Die drei Damen sind Evi Kehrstephan (ein einziger Badora-Rest im Ensemble), Friederike Tiefenbacher und Lavinia Nowak, alle hysterisch genug, aber die Herren Frank Genser, Uwe Schmieder und Samouil Stoyanov stehen ihnen da um nichts nach. Sie spielen sich die Seele aus dem Leib – und sind doch nur die Marionetten eines ermüdenden Veitstanzes…

Über David Bowies „Ground Control to Major Tom“ fällt langsam der Vorgang. Und Kay Voges hat sein (zumindest Premieren-) Publikum: Es beklatschte auch diese Premiere, ohne zu hinterfragen, was man warum gesehen hat.

Renate Wagner  

 

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