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WIEN / Theater in der Josefstadt: LEOPOLDSTADT

28.04.2022 | KRITIKEN, Theater

02 leopoldstadt szene mit föttinger
Fotos: Theater in der Josefstadt

WIEN / Theater in der Josefstadt: 
LEOPOLDSTADT von Tom Stoppard
Deutschsprachige Erstaufführung
Premiere: 28. April 2022 
Besucht wurde die Voraufführung am 27. April 2022 

Zu Beginn der Josefstädter Saison stand das Panorama jüdischen Großbürgertums um 1900 in der Dramatisierung von Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“. Am Ende der Spielzeit (fast, es gibt noch eine Horvath-Premiere)  geht es nun um ein ganz ähnliches Thema (sogar mit deklarierten Anleihen an Schnitzler): Die deutschsprachige Erstaufführung von Tom Stoppards „Leopoldstadt“ (der Zweite Wiener Bezirk als „Judenviertel“ der Stadt einst – und ein wenig auch jetzt noch) verfolgt die Schicksale einer jüdischen Großfamilie über mehr als 55 Jahre – von ihrer großen Zeit in der Ära des Franzisko-Josephinischen Liberalismus bis zu ihrer Vernichtung und zu dem Bewusstsein der ganz, ganz wenigen Überlebenden.

Auch wenn es das Josefstädter Programmheft nicht bestätigte, wäre klar, dass hier ein Mann, der als herausragender „britischer Dramatiker“ gilt, sein eigenes Schicksal als geborener Jude hervorholt, das von anderen, also auch von ihm, lange verdrängt wurde. Am Ende des Stücks bringt Stoppard sich gewissermaßen sogar selbst auf die Bühne – als der junge Mann, der als „Brite“ aufgewachsen ist und dies voll akzeptiert hat. Bis er in späten Jahren (er ist Jahrgang 1937) die jüdische Problematik nun doch auch als Dramatiker thematisierte. Dass er dafür eine Wiener jüdische Familie wählte, ist nicht erstaunlich – schließlich gehen seine Wurzeln als in der Tschechoslowakei Geborener in den davor liegenden Generationen auch tief in die Monarchie zurück.

Tatsächlich aber merkt man dem Stück, das mit der ihm üblichen Sicherheit (und Routine) gestaltet ist, aber eines an: Dass Stoppard angelesenes Wissen verwertet und unbedingt auch weitergeben will. Das macht „Leopoldstadt“ nicht nur  zum „Lehrstück“ mit offensichtlicher Zeigefinger-Betroffenheits-Intention, sondern ein wenig zur Volkshochschule oder einer jener populären Fernseh-„Dokumentationen“, wo Wissen gefällig und oberflächlich aufbereitet wird.

In den vier Teilen des Stücks, das zu einer (etwas unübersichtlichen) dreistündigen Familiensaga wird, kann vieles schön doziert werden. Im ersten Teil, der kurz vor 1900 spielt, die Zufriedenheit der assimilierten, teils auch getauften Juden, die es nicht nur finanziell, sondern auch „gesellschaftlich“ geschafft haben und auf ihre kulturellen Ambitionen stolz sind  – während andere den permanenten Antisemitismus keinesfalls als überwunden betrachten und in Theodor Herzls Traum von der Rückkehr nach Palästina den Weg in die Zukunft sehen.

Der zweite Teil spielt in den frühen zwanziger Jahren (die Salzburger Festspiele gibt es schon), da ist in der Krise sowohl der Verfall der jüdischen Vermögen zu beklagen, wie auch kurz die Spannungen der Epoche darzulegen – Kommunismus (dem viele Juden zuneigten) und Nationalismus kämpften um die Zukunft. Man weiß, wie es ausgegangen ist.

Teil drei spielt nach dem Anschluß, und da kann dann auch der böse Nazi die Bühne stürmen und die ganze Gemeinheit des Regimes über die nunmehr recht-, macht- und geldlosen Juden ergießen, von denen die meisten die nächste Zeit nicht überleben werden.

Im vierten Teil ist man knapp nach dem Staatsvertrag, es geht nicht nur um Restitution, es geht auch um die Haltung jener, die noch da sind, zu ihrer Vergangenheit.

Das ist der ideologische Überbau – natürlich gibt es zu jedem Teil auch „Handlung“, wobei nur einige Figuren echte Konturen erhalten, viele hingegen bloß Staffage bleiben. Stoppard hat zwei Familien zu  einem Clan verstrickt, wo man spätestens bei der zweiten Generation nicht mehr sagen kann, wie die Leute genau miteinander verwandt sind. Das Programmheft mit einer dankenswerten Stammtafel kann man ja erst verspätet konsultieren…

Dass Stoppard für das erste Kapitel der „Leopoldstadt“ bei Arthur Schnitzler Anleihen nahm, ist nicht erstaunlich, schließlich hat er unter dem Titel „Dalliance“ einst dessen „Liebelei“ bearbeitet (ebenso wie, unglaublich gelungen, übrigens auch Nestroys „Jux“) – die Affinität zu Österreich ist da, sie manifestiert sich auch in der Freundschaft mit dem Dramatiker Daniel Kehlmann, der das Stück übersetzt hat und sich sehr für Stoppard einsetzt, der dem deutschen Sprachraum nach seinen frühen Erfolgen leider weitgehend abhanden gekommen ist.

Teil eins, der unter dem Regiment der Familienmatrone Emilia (Marianne Nentwich) die Hauptpersonen einführt, ist eine interessante Variante der „Liebelei“, wobei Stoppard sogar für „Fritz“ (und seinen Freund Theodorr) die Namen behielt, ebenso die Zugehörigkeit zu den Dragonern. Nur läuft hier die Geschichte ganz anders. Fritz (Roman Schmelzer) verliebt sich nicht in das „süße“, in diesem Fall jüdische Mädel, das ihn anschmachtet (Alexandra Krismer), sondern in ihre Verwandte Gretl (Maria Köstlinger), die sie zum Rendezvous mitgebracht hat.

Diese Gretl ist nun die (christliche) Gattin der Hauptfigur, des jüdischen, aber getauften Textilgroßhändlers Hermann Merz (Herbert Föttinger). Sie ist also die „verheiratete Frau“, die Fritz bei Schnitzler das Leben kostet. Nicht so bei Stoppard – denn als Merz den jungen Offizier fordern will, lässt ihn dieser kalt abblitzen: Juden gelten als „satisfaktionsunfähig“ („Wer keine Ehre hat, kann nicht beleidigt werden“), und Merz wird darauf zurück geworfen, dass sein fester Glaube, ein anerkanntes Mitglied der großen Wiener Gesellschaft zu sein, eine Illusion ist… Sein Schwager Ludwig (Ulrich Reinthaller), Universitätsprofessor für Mathematik, macht sich da gar nichts vor… Und weil Stoppard natürlich Klischees bedienen muss, auch wenn sie wahr waren, ist auch Ernst (Marcus Bluhm) ein weiteres Mitglied der Familie (wenn auch ein angeheirateter Katholik), angesehener Arzt und Professor. Weil die Juden bei Geld und Intellekt eben führend waren.

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In diesem ersten Teil, dem längsten von allen, gibt es viel Familie mit herumwieselnden Kindern, Banketten, Damen in eleganten Kleidern (außer den Genannten noch Martina Stilp, Susa Meyer) – je höher sie gestiegen waren, umso tiefer werden sie fallen.

Teil zwei, in den zwanziger Jahren, ist eher lapidar. Einst Kinder, jetzt junge Mädchen, tanzen Martina Ebm (auf der Suche nach einem reichen Mann, den sie in einem Banker findet), Sona MacDonald, Silvia Meisterle herum, Alma Hasun ist ernster und ganz dem Sozialismus verschrieben (und wird einen Aktivisten heiraten). Wie diese jungen Leute  verwandt sind, weiß keiner mehr, ist egal, alles Familie. Der Sohn von Merz und Gretl, die trotz ihres Seitensprungs zusammen geblieben sind, ist einarmig aus dem Krieg zurück gekehrt (Oliver Rosskopf)… Im Gegensatz zum ersten Teil, wo noch einiges „ausgearbeitet“ ist, sind die Einzelschicksale hier schon nicht mehr genau erkennbar.

1938 ist alles düster, die Familienmitglieder in einem Raum der Wohnung zusammen gepfercht, da herrscht nur noch die Situation der Demütigung, wobei der englische Journalist, der die Lage voll durchschaut (Michael Dangl), zumindest eine der jungen Frauen heiratet und samt ihrem kleinen Sohn mit sich nimmt. Dann kommt der böse Nazi – und wenn man Joseph Lorenz auch den gnadenlosen Apparatschik glaubt, der der Familie in zynischer Brutalität ihren Abtransport verkündet, so ist das doch das bis zum Letzten zugespitzte Klischee, wie aus dem hässlichen Bilderbuch.

Im vierten Teil gibt es nur noch drei Überlebende, von denen zwei gerade noch im vorigen Abschnitt als Kinder zu sehen waren. Ein junger Jude (Raphael von Bargen), der es nach Amerika geschafft hat (Mathematiker wie sein Großonkel), kehrt zurück, der Anklagen voll. Bei dem anderen, der als Brite aufwuchs (Tobias Reinthaller, hier als Enkel seines leiblichen Vaters auf der Bühne stehend), muss das jüdische Bewusstsein erst geweckt werden. Und da ist noch einmal Sona MacDonald, jetzt weißhaarig, ganz als Maria Altmann verkleidet, die entschlossen ist, das Bild, das (vermutlich) Gustav Klimt von Gretl gemalt hat, wieder zu bekommen. Kein Zweifel, sie wird erfolgreich sein. Dem englischen Neffen malt sie einen Stammbaum der Familie auf. Und von einem Namen zum nächsten kann sie nur sagen: „Auschwitz“…

Das ist alles sehr eindrucksvoll, schlicht aufbereitet, leicht verdaulich, obwohl Regisseur Janusz Kica es in der opulent-stimmigen Ausstattung von Karin Fritz nie billig gibt, nicht nur Milieu zeichnet, sondern auch Schicksale (wenn es die Figuren hergeben, von denen viele keine richtige Funktion haben – da dienen dann arme Ensemblehunde ihre Verträge ab). Die Regie bekommt die lärmenden Kinder in den Griff (was bekanntlich nicht einfach ist) und auch die langen Belehrungen.

Man könnte sich (Stoppard ist ja auch ein begnadeter Drehbuchautor) eine Fernseh-Saga vorstellen, die auf dieser Familiengeschichte beruht. Da muss man es dem Publikum ja auch leicht machen.

Renate Wagner

 

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