Fotos: Theater in der Josefstadt
WIEN / Theater in der Josefstadt:
DIE STADT DER BLINDEN von Thomas Jonigk
nach dem gleichnamigen Roman von José Saramago
Uraufführung
Premiere: 16. September 2021
Besucht wurde die Voraufführung am 27. Mai 2021
Der Außenstehende, der gar keinen Einblick in innerbetriebliche Josefstadt-Vorgänge hat, könnte sich Folgendes vorstellen: Mitte März 2020 war die Pandemie, damals noch fast kess „Corona“ betitelt, mittlerweile seriöserweise meist nur noch „Covid-19“ genannt, so unmissverständlich bei uns angekommen, dass die Theater schließen mussten. Und ein Theaterdirektor, der auf sich hält, sollte doch bald ein Stück zum Thema haben.
Also Seuche, Epidemie, Pandemie – „Die Pest“ von Camus kann es ja nicht immer sein, aber „Die Blinden“ des Portugiesen José Saramago (Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1998) tun es ja auch, man muss sie nur dramatisieren. Thomas Jonigk, ein erfahrener Dramatiker (in Wien allerdings nie viel gespielt, nur bei Hans Gratzer war er in den neunziger Jahren im Schauspielhaus „zuhause“) konnte das unternehmen, und Herbert Föttinger hat punktgenau gerade noch zum Ende der Spielzeit 20/21 sein aktuelles Stück, in dem er dem Publikum den moralischen Spiegel vorhalten kann, wie schlecht die Menschen doch in Zeiten von Krisen sind, wenn alles Gutmenschentum, wenn die ganze Zivilisationstünche von ihnen abfällt. Da interessieren sie sich vermutlich nicht mehr dafür, was für andere Menschen „matters“, sondern nur für das eigene Überleben…
Jonigk hat etwas von der Romanstruktur beibehalten, indem er immer wieder „episch“ erzählen lässt, oft auch chorisch, da stehen sie da wie im antiken Drama und berichten, aber es schält sich schnell auch eine geradlinige Handlung heraus. Aus heiterem Himmel wird ein Mann krank – in diesem Fall „blind“, Das ist vermutlich metaphorisch gemeint, aber man könnte die Seelen-, Herzens- oder sonstigen Blindheiten der Menschen hier nicht wirklich ausdiskutieren, weil der Autor am Ende alle wieder sehend werden lässt und es eigentlich nicht klar ist, welche Konsequenzen er sie aus dem Erlebten ziehen lässt. Warum sie blind wurden, warum alles auf einmal wieder vorbei ist, schwebt in den Wolken: Literatur eben. Das Theater hätte da gerne handfestere Angaben…
Immerhin lässt sich mit den „Blinden“ schön die Achterbahn der Ängste fahren – weil Blindwerden offenbar ansteckend ist, werden die Blinden in Quarantäne gesteckt (Reizwort für die Gegenwart!), allerdings ist kein liebevoller Staat da, der sich um sie kümmert, sondern aus dem Wegsperren der Blinden, um die Gemeinschaft zu schonen, wird schnell der Terror eines Gefängnisses, plündern die Wächter die Hilflosen aus, und als sie nicht mehr zahlen können, müssen sich die Frauen vergewaltigen lassen, um den Männern und sich selbst Essen zu verschaffen…
Die Flucht aus dem Gefängnis bringt sie in eine Welt, wo mittlerweile alle blind und total verroht sind (rohes Fleisch von selbst erwürgten Tieren zu essen – was tut man nicht alles), die Wendung zum Besseren kommt nicht ganz logisch, das „glückliche“ Ende abrupt und vom Autor her unverarbeitet. Alles war schrecklich – und jetzt ist alles wieder gut?
Man wäre nicht in der Josefstadt des Herbert Föttinger, wenn er sich einen bösen Seitenhieb auf die Regierung, speziell den Kanzler, entgehen ließe: Julian Valerio Rehrl, ganz auf Sebastian Kurz gestylt, muss Politiker-Sprech, also Leere-Luft dreschen, wir hören auch von Verschwörungstheorien, es wurde getan, was man konnte, um die Sache „aktuell“ zu machen, aber so richtig will es nicht funktionieren. Dass man sich anpassen muss, das hat übrigens auch der Josefstadt-Direktor eingesehen: Dafür, dass er einst ganz laut herausposaunt hat, er werde sich nicht „zum Blockwart der Regierung“ machen – dafür kontrolliert sein Personal jede Karte auf Namen, jeden Test auf Namen und Datum, und einen Personalausweis wollen sie auch noch. Genauer hätte man es an einer DDR-Grenze auch nicht machen können…
Der Abend dankt viel der Regisseurin Stephanie Mohr, die ihre Darsteller auch durch sehr viel logistisches Chaos führen muss und das souverän bewältigt, auch dank einem sehr überzeugenden Bühnenbild von Miriam Busch (Kostüme: Nini von Selzam). Pastos und Exzesse sind nicht zu vermeiden, aber die Regie überreizt es nicht, obwohl anzunehmen ist, dass zartere Josefstädter Abonnenten-Gemüter sich hier einer Akkumulation des Grauens gegenüber sehen, die ihnen gar nicht gefallen wird. Aber das macht nichts, die Botschaft muss man ihnen schon hinein würgen…
Aber, seien wir einmal ehrlich: Wir brauchen nun wirklich nicht so erstaunt und entrüstet zu tun, wie „schrecklich“ sich der Mensch in Extremsituationen verhält. Das Thema wurde zahllose Male abgehandelt, es gibt unvermeidliche Verhaltensweisen, die alles andere als schön sind und dem Menschengeschlecht kein gutes Zeugnis ausstellen. Im Theater sitzend, betrachtet man dergleichen doch ohnedies unter dem Motto „Ach, wie anders ist der Gute“ (und meint sich selbst damit, dem das alles ohnedies nie passieren könnte, oder?). Steckt da nicht eine Menge Heuchelei in der Entrüstung, die von der Bühne herab um jeden Preis erregt werden will?
Roman Schmelzer darf als Erster feststellen, dass er erblindet ist, um dann im Rahmen der Handlung in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Dort ist seine Frau immer, und wenn man ihre Fernseh-Popularität bedenkt, fragt man sich, wie Martina Ebm es verkraftet, so gar keine Rolle zu haben. Dann kommt der Augenarzt, der sich (wie Fachleute so sind) angesichts der Pandemie nur wundern kann, aber auch Ulrich Reinthaller bekommt darüber hinaus nicht viel zu tun.
Eigentlich hat das Stück eine einzige Rolle, die aufopfernde Ehefrau, die behauptet, selbst blind zu sein, damit sie mit dem Arzt-Gatten in das „Sanatorium“ kann, das eigentlich ein Gefängnis und nach und nach eine Hölle ist: Sandra Cervik hat die Rolle der „Sehenden“ geangelt, die sich ihrer Aufgabe und Verantwortung bewusst ist und alles moralisch glänzend meistert. Sie tut es mit vielen Nuancen auch der Verzweiflung, dass sie nicht gar zu unglaubwürdig edel wird, jedenfalls ist sie das Zentrum, um das sich alles dreht.
Im Rest der Besetzung hat nur Alexandra Krismer eine kurze, schrille Rolle der einsamen Frau, die alles isst (frisst), und das ist ganz intensiv. Die anderen müssen aufwendig herumschwanken und froh sein, dass sie spielen dürfen. Das sind dann Marlene Hauser, Raphael von Bargen, Alexander Absenger und Peter Scholz.
Bei aller Simplizität der Handlungsführung (oder vielleicht gerade deshalb) schien der Abend das Publikum beeindruckt zu haben, und für seine gekonnte Machart ist der Applaus verdient. Dennoch: Als Schiller vom Theater als „moralischer Anstalt“ sprach, hat er es vielleicht nicht so simpel gemeint.
Renate Wagner