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WIEN/Theater an der Wien: „ORLANDO“, diesmal von Georg Friedrich Händel

Rasender Roland, ein irrer Stalker

16.04.2019 | Allgemein, Oper


Foto: Monika Rittershaus

WIEN/Theater an der Wien: „ORLANDO“, diesmal von Georg Friedrich Händel

Rasender Roland, ein irrer Stalker

16.4. 2019 – Karl Masek

Wo Claus Guth draufsteht, ist Claus Guth drin. Klar, dass im Falle „Orlando“ nicht der Ritter Roland, Krieger aus dem Heer Karls des Großen, gezeigt wird. Klar, dass da nicht das Epos, wie es Librettist Ludovico Ariostokreiert hatte, vom Blatt gespielt wird. Klar, dass hier mit dem speziellen und mittlerweile altbekannten szenischen Vokabular, das dem zweifachen Faust-Preisträger, Philosophen, Germanisten und Theaterwissenschaftler eigen ist, operiert wird: Die Geschichte wird in die Gegenwart verlegt und geografisch aus dem Süden Europas (Spanien) in eine noch südlichere Gegend Lateinamerikas (Mexiko?) „verortet“, wie das dann immer so schön heißt. Figuren werden hinzu erfunden (5 Statist/innen bekommen mehr zu tun als üblich), mit Doubles wird gearbeitet.  Ein besonderer Dejá-vù-Effekt bei Claus Guth, der schon reichlich Patina angesetzt hat in all den Jahren seines regielichen Wirkens.

Nun denn: Orlando, von Kriegserlebnissen schwer traumatisiert, zieht sich in sein früheres Leben zurück. Er ist nicht mehr „kompatibel mit der normalen Welt, hat seine moralischen Proportionen verloren“, wie sich der Regisseur im Programmheft ausdrückt. Die besitzergreifende Liebe zu Angelica ist erstrebenswerter als ein zweifelhafter (Nach)ruhm eines Kriegshelden, der womöglich  sein Leben hergegeben hat. Diese Angelica ist aber mittlerweile dem jungen Medoro zugetan. Und auch eine gewisse Dorinda gibt es, die ihrerseits Medoro liebt. Zoroastro ist nach Guths Willen kein „Zauberer“, sondern eine Figur, dieerfolglos versucht, Orlando wieder für den Dienst mit der Waffe zu gewinnen. Dazu wechselt er einen Abend lang ständig Rolle und Outfit, ist einmal korrekter, knochentrockener „Bürokrat“, dann wieder ein schmuddeliger, ständig sternhagelvoller Obdachloser.

Ausgangslage also für eine Story mit den üblichen Konflikten, Verwicklungen, Liebeswirrnissen, krankhafter, tobender Eifersucht (die „Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft“!) und der gewissen barocken „Umständlichkeit“ des ausufernden Erzählens. Orlando ist nicht rasender Roland, sondern irrer Stalker mit (Selbst)zerstörungstendenz, letztlich willens, sich selbst und alle(s) abzufackeln.

Ausstatter Christian Schmidt stellt eine hässliche, heruntergekommene, seltsam monumentale Betonkonstruktion auf die Bühne. Ein Wohnbereich wie ein längst nicht mehr bewohntes Plattenbau-Appartmenthaus.  Bar jeder Einrichtung ist dieses Obergeschoss. Darunter eine Garage. Eine Limousine, die trotz aller Bemühungen nicht reparabel scheint.. An der Wand steht: „PROHIBIDO FUMAR“ – es wird allerdings tüchtig geraucht und gezündelt an diesem Abend! Die Drehbühne ermöglicht Blickfänge zu einer Imbissbude, welche die junge Dorinda betreibt. „Schäferin“ – das war früher! Dorthin kommt auch ein Kunde, derrein optisch an die „Alltagsgeschichten“ der Toni Spira erinnert. Dann wieder ein offenes Stiegenhaus, indem sich waghalsige Verfolgungsjagden und Kletterpartien abspielen, wenn sich das Geschehen mehr und mehr zuspitzt. An der Bushaltestelle wiederum kommen die verlorenen Seelen zusammen. „THAT’S LIVE“ ist hier zu lesen. Eine Bierwerbung. Vergeblich schaut Dorinda beim Fahrplan nach, wann denn der nächste Bus (nach nirgendwo?) kommt. Der Obdachlose bietet der Traurigen Bier aus der Dose an …

Guth will – wie üblich – die Geschichte anders, sprich: heutig, erzählen, dem heutigen Publikum näherbringen, er erklärt uns die (Opern)welt, wozu es natürlich „heutige“ Menschen mit „heutigen“ Emotionen braucht. Orlando ist ein Macho, der gewohnt ist, dass ihm gehört, was er erkämpft hat. Angelica irrlichtert zwischen den beiden Männern hin und her, bringt Orlando zum Wahnsinn, setzt sich über das Aufklärungs-Ideal „Vernunft über alles“ konsequent hinweg, ist den horizontalen Freuden und der Promiskuität nicht abgeneigt, krallt sich den Automechaniker Medoro, auch in Erwartung einer Liebesreise mit dem Luxusschlitten. Koffer (!) sind schon bereit. Die einfach gestrickte WürstelstandbesitzerinDorinda scheint bis zum lietofinebei Medorokeinen Meter zu machen. Bis die nach dem Wüten Orlandos totgeglaubte Angelica diesem wieder erscheint, auch alle anderen Gestalten erscheinen wieder – und sich schließlich alles zum Guten wendet. „Die Realitäten driften auseinander und setzen sich neu zusammen“, heißt es lakonisch in der Inhaltsangabe des Programmhefts. Und man kann als Publikum die Beziehungs-Puzzleteile neu zusammensetzen …

Höchste Zeit für die Musik! „Orlando“, 1733 entstanden, scheint nach dem Höreindruck des 1. Aktes ein etwas schwächeres Stück des großen Hallensers zu sein. Da gibt es doch ziemliche Längen,  mit dem subjektiven Gefühl verbunden: Nach einer Stunde hab ich auf die Uhr geschaut, und es sind 20 Minuten vergangen. Somit ist eine Inszenierung, in der sich „etwas tut“, sehr willkommen! Und derlei reichert Guth mit gekonnter Personenführung natürlich an.  Licht (Bernd Purkrabek) und Videozuspielungen (rocafilm) inbegriffen.

Trumpf-As des Abends war freilich das Orchester Il GiardinoArmonico. Ihm hörte man mit nie erlahmender Aufmerksamkeit, ja mit steigender Begeisterung, zu. Das klang „mit der wilden Frische von Limonen“,  angesichts der dramatischen Steigerungen, da grollte das Orchester auch schon mal mit gefährlich klingendem Bass-Fundament, aber auch sanfte Farben kamen, wenn sich die Protagonist/innen in ihren Gefühlen verlieren. Giovanni Antoniniwar der Animator am Pult, der auch selbst zur Blockflöte griff wenn es galt, besonders schöne und sinnliche Klangfarben zu malen!

Christophe Dumauxwar der atemberaubende, tobende Stalker. Staunenswert, was heutige Opernsänger/innen heute mit ihrer Körperbeherrschung und offensichtlichem Hochleistungssport alles leisten!  Dumaux ist Sänger, Darsteller, Stuntman. Das alles mit einer Counterstimme, die bisher ungeahnte, virtuose Registerwechsel mit größter Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit hörbar macht.

Anna Prohaska als weibliches Objekt der Begierde, Angelica: Respekt für ihre sing-darstellerische Leistung! Sie hat glaubhafte Bühnenpräsenz, somit das Potenzial, gleich 2 Männer um den Verstand zu bringen. Rein sängerisch bewegte sie sich allerdings einen Abend lang am Limit.

Am besten gefiel mir die junge, aufstrebende italienische Sopranistin Giulia Semenzato. Sie verlieh ihrer Figur erdige Hemdsärmeligkeit, sang die Rolle mit mädchenhaft naiver Unschuld, aber auch mit resoluter Schärfe (die unfehlbare Intonation nahm zusätzlich für sie ein!).

Der zweite Counter, Raffaele Pe, bewährte sich als Liebhaber mit schöner Figur, als Automechaniker, der mit Wagenheber und Werkzeugkasten authentisch umzugehen verstand, aber auch mit hübscher Stimme, die allerdings ob der körperlichen Anstrengungen mitunter auf der Suche nach der richtigen Tonhöhe schien.

Ja, und der angebliche Zauberer Zaroastro: Florian Boesch – er war schon im Vorjahr ein  toller „Saul“ in Guths Lesart – holte sich als Sandler Zoroastro mit einer virtuos besoffen geröhrten Arie den ersten Szenenapplaus des Abends. Er musste monatelang in der Szene studiert haben, so perfekt bis ins kleinste Detail der Körpersprache spielte er einen, der auf  Parkbänken übernachtet. Ob es mit Händels Oper  „kompatibel“ ist? Einige gerümpfte Nasen im Publikum wollten das nicht unbedingt beglaubigen!

Allerdings, nach 200 Minuten „Orlando“:  Ungetrübte Zustimmung des Publikums bei dieser 1. Reprise,  Akklamation, Jubel.

Karl Masek

 

 

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