TadW: MATHIS, DER MALER. Premiere: 12. Dezember, besuchte Vorstellung 19.12. 2012–
Wolfgang Koch. Foto: Barbara Zeininger
1994 konnte man im Gran Teatre del Liceu eine stark gekürzte Version dieses opus magnum von Hindemith in der Regie von Götz Friedrich. In den Hauptrollen konnte man damals Albert Dohmen als Mathis, Jan Blinkhof als Albrecht von Brandenburg und Karen Armstrong als Ursula sehen. 2006 brachte das Badische Staatstheater Karlsruhe das Werk auf die Bühne und im Juni 2012 das Züricher Opernhaus. Um einer szenischen Aufführung dieses eindrucksvollen Musiktheaters bislang beiwohnen zu können, musste man also, sofern man nicht in Karlsruhe oder Zürich wohnhaft war, eine Reise einplanen. Und man wurde in jedem Fall belohnt, dieses Werk einmal auch ungekürzt zu erleben. So geschehen nun auch in Wien.
Die Oper Mathis der Maler gehört rein formal zu den Künstleropern. Will man diese noch unterteilen in solche der bildenden Künste, dann wären an dieser Stelle noch die Opern „Vincent“ (über Vincent van Gogh) von Rainer Kunad und Einojuhani Rautavaara, „Goya“ von Jean Prodromides und Gian Carlo Menotti, „Bonjour M. Gauguin“ von Fabrizio Carlone, sowie Berlioz Oper über den Goldschmied Benvenuto Cellini und Juan Guinjoans Oper über den katalanischen Architekten Antoni Gaudí i Cornet, zu nennen.
Zunächst hatte Hindemith noch daran gedacht, eine Oper über den Buchdrucker Johannes Gutenberg zu komponieren, die ebenfalls vorwiegend in Mainz gespielt hätte. In den Jahren zwischen 1933 und 1935 fiel Hindemiths Interesse aber auf den Mathis-Stoff. Er verfasste sein eigenes Libretto, und fügte die Vor- und Zwischenspiele zu einer eigenen Sinfonie zusammen, die am 12. März 1934 unter Wilhelm Furtwängler in Berlin uraufgeführt wurde. Auf Grund des Widerstandes der Nationalsozialisten fand dann die Uraufführung der Oper am 28. Mai 1938 im Stadttheater Zürich statt.
In der Zerrissenheit des Künstlers Mathias Grünewald ist auch Hindemiths eigenes Ringen um die rechte Konfession eingeflossen. Als getaufter Protestant fühlte sich Hindemith in den Dreißigerjahren stark zum Katholizismus hingezogen. Dieser innere Kampf spiegelt sich nicht nur in der Oper Mathis der Maler, sondern auch in der Tanzlegende in fünf Bildern „Nobilissima Visione“ (1938) wider, in deren Fokus die Figur des hl. Franz von Assisi steht. In beiden Werken soll dem irrenden Individuum mittels Visionen die Erkenntnis seines Wesens und seiner Bestimmung vor Augen geführt werden.
Die Oper beginnt mit einem Vorspiel, das in bewusster Anlehnung an die bekannte Darstellung der linken Hälfte der zweiten Schauseite des Isenheimer Altars, dem sogenannten „Engelskonzert“, ebenso betitelt ist. Und gleich zu Beginn greift Hindemith leitmotivartig das alte Lied „Es sungen drei Engel ein‘ süßen Gesang“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ auf, das er im Verlauf der ganzen Oper immer wieder variierte.
In jener Zeit war Europa ein Spielball zwischen den beiden verheerenden Ideologien des Nationalsozialismus und des Bolschewismus. Hindemith versuchte das Leben Mathis Gothart Nitharts vor diesem politischen Hintergrund, mit historisch künstlerischer Freiheit in die Wirren des Glaubenskrieges und der Bauernaufstände eines Deutschlands zur Zeit Martin Luthers und seines Widersachers, des Mainzer Erzbischofes Albrecht von Brandenburg, einzubetten. Dieser historische Aspekt dient aber nur als Rahmen, denn durch die ganze Oper zieht sich die Entstehung des Isenheimer Altars wie ein roter Faden.
Für seine Komposition verwendete Hindemith bewusst so barocke Formen wie das Concerto grosso und die Chaconne. Daneben finden sich aber auch musikalische Zitate aus Wagners Parsifal (6. Bild, 2. Auftritt: Ursula als Märtyrerin: „Über die Lust hinaus wächst nur der Schmerz“) und Götterdämmerung (7. Bild, 1. Auftritt: Regina: „Vieles weiss ich“). Aber auch volkstümliche Waisen, die Hindemith aus dem Altdeutschen Liederbuch, 1877 herausgegeben von Franz Theodor Magnus Böhme (1827-1898), entnommen hat, flossen an mehreren Stellen in die Partitur ein.
Der südafrikanische Bühnenbildner Johan Engels ließ den Gekreuzigten des Isenheimer Altars als riesige, begehbare Plastik mit ihren ausgebreiteten stigmatisierten Händen über dem Bühnenboden gleichsam omnipräsent und dreidimensional „schweben“. Mit der unerhörtesten Expressivität zeichnete Mathias Grünewald, dieser letzte Vertreter der Spätgotik, den gekreuzigten Erlöser. Als Drehpunkt des Geschehens driftet diese Figur manchmal in ihre Einzelteile und gibt so zwischen den gespreizten Beinen Raum für spannende Auftritte, etwa des Erzbischofes. Während der Empörung der Bauern wider die Obrigkeit, klettern einige beherzte Gesellen auf den Armen der Statue herum und werfen Teile der Arme auf die fürstlichen Truppen. Im Arbeitszimmer Albrechts von Brandenburg wird dem schaurigen Reliquienkult der katholischen Kirche gehuldigt und in gläsernen Vitrinen stehend sieht man schmuckbehangene und gekrönte Skelette von Märtyrern sonder Zahl. In den Traumvision des Malers im sechsten Bild der Oper verschmilzt Mathis mit dem hl. Antonius auf der dritten Schauseite des Isenheimer Altars und wird von allerlei Dämonen gequält. So dringen der Reihe nach die Gräfin in Gestalt der „Üppigkeit“, Dechant Pommersfelden als „Kaufmann“, Ursula als „Bettlerin“ und „Buhlerin“, Capito als „Gelehrter“ und Schwalb als „Kriegsherr“ auf ihn ein. Erlöst wird er schließlich durch den Apostel Paulus in Gestalt von Albrecht von Brandenburg, der ihm aufs Neue seine Aufgabe als Künstler und Berufung als Maler erschließt. Am Ende der Oper fügen sich die einzelnen Teile des Erlösers, während sich die Bühne dreht, wieder exakt zusammen, ein starkes Symbol des Friedens oder anders ausgedrückt: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offenbarung 22,13).
Während die Mainzer Bürger gut bürgerlich, aber „modern“ gekleidet auftraten, fuchtelten die Bauern mit Heugabeln und ähnlichen Gerätschaften auf der Bühne herum (Kostüme: Emma Ryott).
Mark Jonathan lockerte durch Projektionen, etwa des „Engelskonzertes“ und anderer Skizzen, das Vorspiel und die musikalischen Zwischenspiele auf.
Regisseur Keith Warner belässt seinen Mathis im pseudohistorischen Umfeld der Reformation. Der einsame Künstler, der in der Abwehr Ursulas Gefühlen ein wenig an Meister Hans Sachs erinnert (3. Bild, 3. Auftritt: „Was soll dir ein greiser Mann? Alter kann mit Jugend nicht zusammengehn in einem Joch.“), gerät ungewollt zwischen alle Räder und resigniert zuletzt als einsamer Künstler vor seinem epochalen Werk, dem Isenheimer Altar. Wie wahr sind dann jene Worte Albrechts am Ende der Oper über den nach wie vor geheimnisumwitterten Künstler Mathias Grünewald: „Das Werk wird ewig von dir zeugen, wenn dein Leib vergeht, dein Name erlischt.“ Die bedrohliche Länge der Oper in der ungekürzten Fassung von dreidreiviertel Stunden wird bei Warner niemals langweilig. Zuviel geschieht auf der Bühne, zu stark sind die optischen Eindrücke, als Zuschauer wird man oft völlig in das dramatische Geschehen hinein gezogen und ertappt sich manchmal selber dabei, seine eigene (christliche) Konfession auf den Prüfstand zu stellen.
Bertrand de Billy leitete „seine“ Wiener Symphoniker mit nie erlahmendem Feuer und trug nicht unmaßgeblich zu einer wohl beispielgebenden Wiederentdeckung dieser großen Oper des 20. Jahrhunderts in der Donaumetropole bei. Es wäre wohl falsch, dieses Werk als „Choroper“ abzustempeln, aber der Chor hat in dieser Oper eine so gewichtige Rolle wie einst der als dritter Schauspieler fungierende antike Chor in den Tragödien des Aischylos. Der Slowakische Philharmonische Chor unter der Leitung von Blanka Juhaňáková wurde vom Publikum daher auch stürmisch gefeiert.
Hindemiths Musik ist gekennzeichnet durch eine Divergenz zwischen den sinfonischen Orchesterpartien und den rezitativen bis ariosen Gesangspartien, die den SängerInnen wegen ihrer hohen Tessitura das äußerste abverlangen. Für diese extremen gesanglichen Aufgaben standen dem Theater an der Wien eine erlesene Zahl von Sängern zur Verfügung.
Katerina Tretyakova, Wolfgang Koch. Foto: Barbara Zeininger
Allen voran überzeugte Wolfgang Koch in der Titelrolle von Anbeginn. Er zeichnete glaubwürdig das Bild dieses von inneren Seelenqualen gepeinigten Künstlers zwischen zwei liebenden Frauen, der unfreiwillig zwischen die Fronten des Bauernaufstandes wie des Glaubenskrieges gerät, aufgerieben und unterzugehen droht. Mit seinem gewaltigen Bariton bewältigt er diese Rolle scheinbar mühelos.
Kurt Streit als sein Gegenspieler Albrecht von Brandenburg hatte an diesem Abend leider hörbare stimmliche Probleme und tremolierte fortwährend. Man hatte den Eindruck, dass er sich mit Gewaltanstrengung dieser Partie bemächtigte und stellenweise stimmlich völlig zusammenzubrechen drohte. Erst nach der Pause fand er wieder zu der von ihm gewohnten guten Form zurück. Franz Grundheber ließ seinen Bassbariton als Riedinger wohltuend vernehmen. Da er nach der Pause keinen Auftritt mehr hatte, blieb er den Schlussapplaus ausgerechnet an jenem Abend, der für die spätere DVD-Einspielung aufgezeichnet wurde, schuldig.
Sowohl Manuela Uhl als Ursula als auch Katerina Tretyakova als Regina vermochten mit ihrer intensiven Rollengestaltung und ihrem hinreißenden Gesang zu begeistern. Bei beiden sympathischen Sängerinnen war es ihr Debüt am Theater an der Wien, dem noch viele weitere Auftritte folgen mögen! Magdalena Anna Hofmann ergänzte als gepeinigte und mehrfach geschändete Gräfin Helfenstein.
Raymond Very ergänzte mit seinem markigen Tenor rollengerecht als behäbiger Bauernführer Hans Schwalb. Martin Snell als Lorenz von Pommersfelden, Charles Reid als intriganter Wolfgang Capito und Oliver Ringelhahn als Sylvester von Schaumberg trugen mit zum großen Erfolg dieses Abends bei. Als Truchseß von Waldburg und Pfeifer des Grafen Helfenstein erlebte man noch Ben Connor und Andrew Owens, beide Mitglieder des Jungen Ensembles des Theaters an der Wien.
Am Ende der Oper spendete jener Teil des Publikums, der geduldig bis zum Schluss ausgeharrt hatte, allen Mitwirkenden jubelnden Applaus. Und das vollkommen gerechtfertigt! Bravissimo!
Harald Lacina