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WIEN/ Theater an der Wien: DIE JUNGFRAU VON ORLEANS

24.03.2019 | Allgemein, Oper

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Lena Belkina. Foto: Werner Kmetitsch/ Theater an der Wien

Theater an der Wien:  Die Jungfrau von Orléans – 23.3.2019 (Premiere am 16.3.2019) –

Tschaikowski verfasste für diese Oper sein eigenes Libretto auf Grundlage der Dramen von Friedrich Schiller (in russischer Übersetzung von Wassili Schukowsky) und Jules Barbier (1825-1901), des Librettos zu Auguste Mermets (1810-89) Oper „Jeanne d’Arc“ sowie der Biographie der Heiligen von Henri Wallon (1812-1904). Tschaikowski strich alle Szenen aus dem Schillerschen Drama, die im englischen Lager spielen, entnahm dafür aber aus dem Libretto Mermets eine Dorfszene in Domrémy, mit der die Oper auch anfängt. Verdis Oper „Giovanna d’Arco“ erachtete er hingegen als unbrauchbar und übernahm lediglich die Soloflöte zur Charakterisierung der Unschuld Johannas. Die vieraktige Oper in sechs Bildern wurde schließlich am 25. Februar 1881 im Mariinski-Theater in Sankt Petersburg uraufgeführt. Später überarbeitete der Komponist die Oper und transponierte die Hauptrolle von einem Sopran zu einem Mezzo. Diese Zweitfassung legte das Theater an der Wien seiner laufenden Produktion zu Grunde. Kein Regisseur bzw keine Regisseurin kommt heute offenbar daran vorbei, bereits die Ouvertüre mit eigenen Gedanken aufdringlich zu bebildern. Und so führt auch Lotte de Beer, die 2014 am Theater an der Wien bereits Bizets „Les pêcheurs des perles“ und 2016 an der Kammeroper Verdis „La traviata“ zu verantworten hatte, während der Ouvertüre Johannas Vater Thibaut d’arc vor, wie er sich an ein junges Mädchen heran macht. Man glaubt schon, Zeuge einer geschmacklosen inzestuösen Beziehung zu werden, da tritt Tochter Johanna in Kapuzenjacke auf den Plan und stört die intime Szene ihres Vaters mit dessen Geliebter. Hinter dem im Programmheft angeführten Ausstattungsteam Clement & Sanôu verbergen sich die seit 2004 gemeinsam tätigen Künstler Eddy van der Laan und Pepijn Rozing. Das betont feministische Konzept der Regisseurin wird über den sattsam bekannten Stoff über die in einer patriarchalen Männerwelt lebenden Johanna krampfhaft gestülpt, in der zu allem Überfluss dann Suffragetten, Queen Elizabeth I. und die russische kirchen- und regierungskritische Punkrock Band Pussy Riots mit Bannern wie „Votes for Women“ auftreten. Aus dem mit einem Madonnaposter geschmückten Kinderzimmer der pubertierenden Johanna, in dem sich ein Hochbett befindet, wird im dritten Akt der Thron für die Krönung des Königs zu Reims, zu dem man über treppenförmig aneinander gereihte schäbige Büroschränke und Tische gelangt. Auf diesem Hochbett erlebt Johanna dann während ihres Verhörs auch schmerzvoll ihre erste Menstruation, wovon die vier blutbefleckten Stoffrollen zeugten, die schräg auf den Bühnenboden gespannt und vom aufgewühlten Volk (Chor) wie eine Reliquie befühlt wurden. Was die Regisseurin eigentlich aus ihrer Sicht der historischen Geschichte formen will, bleibt jedoch die meiste Zeit über unklar. Immerhin gelingt ihr ein interessanter Akzent mit der Kampfszene zwischen den Doubeln von Johanna und Lyonel in den Lüften des Theaters, die an Easternfilme erinnert und schon von Henning Brockmann für seine Inszenierung der Hexenszenen von Macbeth u.a. 2002 in Budapest zum Einsatz kam. Weniger überzeugend fielen die Tanzszenen aus, in der eine vom Kinderballett Dancearts unter Leitung von Boris Nebyla vervielfachte Johanna von den Repräsentanten einer patriarchalen Männerwelt an der Hand im Tanzschritt (Choreographie: Ran Arthur Braun) auf ihrem Lebensweg sicher und behütet geleitet wird. Das kindliche Gehopse wirkte für das Publikum eher belustigend und wollte sogar nicht zur Tragik der von religiösem Eifer und Sendungsbewusstsein getriebenen Titelheldin passen. Sie zerbricht letztlich  an ihrem an der Jungfräulichkeit Marias orientierten weiblichen Idealbild, indem sie sich in den Anführer der englischen Truppen, Lionel, verliebt und durch ihn zur Frau erwacht. Ihre unbedingte Hingabe an die Liebe zu Lionel aber empfindet sie als Verrat am göttlichen Auftrag, sodass sie am Ende, anders als bei Schiller, wo sie in der Schlacht getötet wird, demütig das kirchliche Strafgericht über sich ergehen lässt. Bei de Beer findet die an einen Baum gefesselte Johanna aber auch nicht den Flammentod, sondern wird vom Volk, gemäß der biblischen Perikope über Jesus und die Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11), solange gesteinigt bis sie von ihrem alter ego, der echten Johanna, befreit wird. Eine auf diese Weise „auferstandene“ Johanna tritt entsühnt und gereinigt an die Bühnenrampe und blickt stumm ins Publikum… Vorhang


Simona Mihail, Dmitry Golovin. Foto: Werner Kmetitsch

Als Titelheldin überzeugte Lena Belkina mit einem dunkel gefärbten Mezzo in dieser Zweitfassung der Tschaikowski Oper. Man könnte vermuten, dass mit der Fassung für Sopran eher die Jungfräulichkeit Johannas unterstrichen werden sollte, wohingegen die Mezzofassung die Auflehnung Johannas gegen das männerdominierte Establishment ihrer Zeit stärker zum Ausdruck bringt. Und so emanzipiert sich die jugendliche Johanna mit langen schwarzen Haaren während der Oper aus der väterlichen Munt und tritt dem König, dessen Geliebter und dem Erzbischof von Reims resolut entgegen. Am Ende schneidet sie in Erwartung ihres bevorstehenden Todes schon einmal vorsorglich ihr Haar ab, was bei zum Tode verurteilten Rechtsbrechern in jenen Zeiten allgemeiner Usus war. Stimmlich überzeugte sie durch ihren abgedunkelten Mezzo und erhielt am Ende der Vorstellung auch vom Publikum den meisten Applaus. Als Thibaut d’arc, Johannas Vater, bot man Sir Willard White mit einem karierten Sakko bekleidet auf, der so gar nicht bäuerlich wirkte und während der Ouvertüre in eine Ausgabe von „Le Monde“ vertieft ist. Raymond Very als Johannas Verlobter Raimond ergänzte diese Familienaufstellung und blieb stimmlich ebenso wie sein nur fallweise bedrohlich donnernder Schwiegervater in spe eher unauffällig. Dmitry Golovnin als König Karl VII. mit Brille ist mehr an Agnès Sorel, seiner Geliebten, interessiert als an Kriegsgeschäften. Er zieht sogar in Erwägung, gemeinsam mit ihr vor den feindlichen Truppen zu fliehen. Sein wankelmütiger, labiler Charakter wird durch seinen markanten Tenor noch überhöht. Die gebürtige Rumänin Simona Mihai verlieh ihren streckenweise etwas schrillen Sopran Agnès Sorel (um1422-1450), der ersten offiziellen Mätresse des französischen Königs. Als Erzbischof von Reims lieferte Bariton Martin Winkler eine Karikatur eines katholischen Würdenträgers, der mit seinen begehrlichen Händen Johanna lüstern betatscht. Der isländische Bariton Kristján Jóhannesson, Mitglied des jungen Ensembles des Theaters an der Wien,  avanciert im zweiten Teil des Abends zu Johannes aufopferungsbereiten Liebhaber Lionel. Daniel Schmutzhard verkörperte überzeugend den bösen Ritter Graf Dunois, den Bastard von Orleans. In kurzen Auftritten zeigten Igor Bakan als Bauer Bertrand, Florian Köfler als Loré und Ivan Zinoviev als Soldat, der plötzlich im Kinderzimmer Johannas in Rüstung erscheint, stimmliches wie darstellerisches Profil. Als Luftakrobaten bzw. Doubles von Johanna und Lionel wirkten Helena Sturm und Sebastijan Geč mit. Der Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Erwin Ortner glättete als Partyfeierndes Volk und aufgestachelter Mob mit Schöngesang so manche abstrusen Regieauswüchse.

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Lena Belkina. Foto: Werner Kmetitsch

Der in der Ukraine geborenen Dirigentin Oksana Lyniv gelang es gemeinsam mit den Wiener Symphoniken überzeugend die lyrischen Schönheiten der Partitur Tschaikowskis und die dazu kontrastierenden mächtigen Chöre heraus zu streichen. Alessandro Carletti zeichnete noch für die sensible Lichtregie verantwortlich.

Der Schlussapplaus verteilte sich gleichmäßig auf alle Mitwirkenden und steigerte sich – völlig gerechtfertigt – zu Jubelbekundung als Lena Belkina vor den Vorhang trat. Ich persönlich mag konzertante Aufführung nicht so sehr, wäre doch eine Oper ohne szenische Präsentation ein reines Konzert, ebenso ein Schauspiel ohne entsprechende Bühnenumsetzung zu einem bloßen Hörspiel degradiert würde. Dann lieber, auch auf die Gefahr hin, dass eine Inszenierung die eigene Erwartungshaltung – wie bei dieser Produktion – eher enttäuscht, eine szenische Aufführung, wofür dem Theater an der Wien an dieser Stelle ausdrücklich zu danken ist.

  Harald Lacina

 

 

 

 

 

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