Foto: Theater an der Wien
WIEN / Theater an der Wien:
CAPRICCIO von Richard Strauss
Premiere: 18. April 2016,
besucht wurde die fünfte Vorstellung am 29. April 2016
Roland Geyer hat Wien sein drittes Opernhaus erobert (wofür ihm ewiger Dank der interessierten Opernfreunde zusteht), und in den Jahren, seit er es leitet, hat es viele aufregend gute Abende gegeben, viele sehr gute, manche ordentliche und manche weniger gelungene – wie auch anders. Aber einen Totalausfall hatte man noch nie zu verzeichnen. Bis jetzt, bis zu „Capriccio“ von Regisseurin Tatjana Gürbaca. Mein Gott, was gehört eigentlich dazu, zum „Opernregisseur des Jahres“ gekrönt zu werden?
Tatjana Gürbaca ist der negative Fall geglückt, ihre Inszenierung in keiner Minute mit dem Original zusammen zu bringen. Nichts, was sie unter dem Motto „Auf dem Schlachtfeld der Geschichte“ (das muss einem zu „Capriccio“ einmal einfallen) anzubieten hat, hat auch nur das Geringste damit zu tun, was die Schöpfer einst mit diesem Werk wollten. Es mag mehr sein als nur das im Titel postulierte „Konversationsstück“, aber es hat sein Thema – die Oper diskutiert über sich selbst. Macht eine Oper über die Probleme der Oper. Ist filigranster, equilibristischer intellektueller Seiltanz.
Was sieht man statt dessen auf der Bühne des Theaters an der Wien? Vordergründige Szenen „nach einem Krieg“ (ja, es dürfen auch Handgranaten zwischen den Protagonisten hin und her geworfen werden), für die man sich in allerkürzester Zeit nicht mehr interessiert, weil sie nichts, aber schon gar nichts mit dem Werk zu tun haben. Was soll man mit den Leichen, die da zu keinerlei Leben auferstehen?
Man kann nur hoffen, dass sich niemand in diesen Abend verirrt, der „Capriccio“ nicht kennt, denn der verstünde notgedrungen nur Bahnhof. Und wird sich nur (ungeachtet der höchst komplizierten Logistik dieser Produktion!) grenzenlos langweilen, weil nichts herrscht als Willkür. Alles und dessen Gegenteil ist möglich, und alles bedeutet auf gleiche Art nichts, so sehr es sich auch „aufpudelt“, wie man in Wien sagt. Was soll’s? Man will nicht Rätselraten, was sich ein „Regiewille“ hier ausgedacht hat. Man möchte in irgendeiner Form (nein, natürlich muss es nicht im Ancien Régime des 18. Jahrhunderts spielen) die Geschichte sehen und erkennen. Nichts davon. Schwamm darüber.
Ewig schade um die Besetzung, die man am besten erträgt, wenn man die Augen schließt und die bedauernswerten Herrschaften zum Live-Hörerlebnis erklärt. Dann bekommt man eine Gräfin mit schöner, echter Strauss-Stimme: Maria Bengtsson. Ein paar potente Herren, voran der Tenor Daniel Behle, aber auch die dunklen Stimmen von Andrè Schuen und Daniel Schmutzhard haben Format.
Ansehen muss man Clairon, denn Tanja Ariane Baumgartner ist eine attraktive Erscheinung (der man nur, Kriegs-Blessur?, eine Leder-Hand verpasst hat), die mit etwas Seltenem aufwartet: einem echten, schönen, dunkel orgelnden Mezzo, kein verhatschter Sopran, wie so oft. Und hinsehen muss man auch, selbst wenn es das Herz zerreißt, bei Lars Woldt: Denn da bestrickt nicht nur (ungeachtet dessen, dass er sich „ansagen“ ließ, tadellos gesungen) die exakte Artikulation, sondern auch das exakte Spiel – und man weiß, welch hervorragenden La Roche er in einer Inszenierung abgegeben hätte, wo er La Roche hätte sein dürfen…
Viel blöder Jokus um die anderen Figuren, im übrigen Bertrand de Billy am Pult der Wiener Symphoniker, der den Strauss „aufrauschen“ ließ, aber auch in den höchst komplizierten Ensembles souverän waltete und seine exzellenten Sänger ebenso zusammen hielt.
Was soll’s? Es waren dennoch die denkbar längsten, mühseligsten zweieinhalb Stunden, an die man sich erinnert, geradezu körperliche Schmerzen evozierend (man hörte auch Logentüren knallen, sah Leute mitten in der Aufführung weggehen). Eine Direktion trägt auch Verantwortung – einem Werk und seinem Schöpfer gegenüber, nicht zuletzt dem Publikum gegenüber. Kann man das Schielen nach dem Zeitgeist nicht ein wenig beiseite lassen? Mehr noch: Sollte man nicht langsam das „Recht auf Verballhornung“ hinterfragen, das sich unter dem Mäntelchen der „Freiheit der Kunst“ auf unseren Bühnen so unverschämt geriert?
Renate Wagner