
David Fischer (Piquillo), Anna Lucia Richter (La Perichole). Alle Fotos: Musiktheater an der Wien / Werner Kmetitsch
WIEN / Musiktheater an der Wien im Museumsquartier: LA PERICHOLE
3. Aufführung in dieser Inszenierung
22-Jänner 2023
Von Manfred A. Schmid
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral,“ heißt es unverblümt in der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bert Brecht. Darum geht es im Grunde auch in La Perichole von Jacques Offenbach, in der der absolutistisch skrupellos regierende peruanische Vizekönig bei einem Fest, an dem er maskiert teilnimmt und vom betrunken und gefügig gemachten Volk bejubelt wird, sich hals über kopf in die hübsche Straßensängerin Perichole verschaut und diese unbedingt zu seiner Mätresse machen will. Sie, von Hunger und Existenzsorgen gequält und gerade dabei, sich von ihrem Geliebten Piquillo zu trennen, ist eine leichte Beute. Doch sie reflektiert ihre Situation in einem Brief an an Piquillo in herzergreifenden Worten, die nichts mit dem schnoddrigen Befund in Brechts „Ballade über die Frage, wovon lebt der Mensch“ gemein hat, sondern der am eigenen Leib erfahrenen Erkenntnis, dass „Armut so hart ist“ geschuldet ist.
Das ist das Problem der Inszenierung von Nikolaus Habjan, die an die mit feiner französischer Klinge ausgefochtene Operette Offenbachs mit einem Wiener Schlachtmesser herangeht. Brachialkomik und schenkelklopfender Humor statt Ironie und Satire. Dann ist es auch kein Wunder, dass im ersten Auftritt von Gerhard Ernst als Stadtkommandant die aus Funk und Fernsehen hinlänglich bekannte Fleischerei Hofstädter erwähnt wird. „Peru darf nicht Wien werden“ heißt es auf dem großen Wahlplakat, das im Ersten Akt das Bühnenbild dominiert. Das Gegenteil ist wahr: Die peruanische Hauptstadt Lima mit ihrer Plaza de la corupción wird, im Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann, zu einem Würstelstand-Wien, es gibt Anspielungen auf österreichische Skandale von KHG über Ibiza bis zur jüngsten Gegenwart in Hülle und Fülle (etwas weniger wäre mehr gewesen). Politisches Kabarett, unterhaltsam und bunt, präsentiert als eine etwas derbe, nicht sehr raffinierte, dafür deftige und garantiert sattmachende österreichische Schlachtplatte. Warum Karl Kraus vom offenbachschem Original einst so begeistert war, dass er sie ins Deutsche übertragen und – alle Rollen selbst spielend – aufgeführt hatte, lässt sich anhand dieser eingewienerten Version nicht mehr nachvollziehen. Noch weniger der von Kraus angestellte Vergleich von Pericholes Briefarie, in der sie Piquillo für ein besseres Leben herzugeben entschlossen ist, eigentlich aber sich selbst verkauft, mit Shakespeare Lust-Tragik.

Alexander Strömer (Vizekönig) und Tania Golden, Bettina Soriat und Alexandra Maria Timmel als die Drei Cousinen von der Würstl-Tankstelle
Damit Perichole als Edeldame – so der Titel der offiziellen Mätresse – in den Palast aufgenommen werden kann, muss sie verheiratet sein. Dazu wird flugs der erstbeste Ankömmling als Ehemann verdonnert. Dieser ist – so will es die Operettenlogik – ausgerechnet der sturzbetrunkene Piquillo, der gar nicht begreift, worauf er sich da einlässt. Wieder nüchtern geworden, rebelliert er und landet im Kerker, aus dem er von seiner Geliebten befreit wird, die ihn, trotz seiner Mängel, noch immer liebt. Dem Vizekönig bleibt, in aller Öffentlichkeit von ORF-Kameras umstellt (eine der vielen durchaus gelungenen Ideen Habjans), nichts anderes übrig als sie, zum Beweis seiner Großherzigkeit, zu begnadigen. Die beiden Straßensänger nehmen ihr altes Leben wieder auf. Es war alles – wie in der Fledermaus – „nur a bsoffene Gschicht,“ wie der Vizekönig im TV-Interview wissen lässt.
Das alles ist durchaus lustig und sorgt im Publikum für viele Gelächter. Was aber an dieser Aufführung wirklich besticht, sind die gesanglichen und darstellerischen Leistungen. Die musikalische Seite ist es auch, die einen Besuch – es gibt noch fünf weitere Vorstellungen – empfehlenswert macht. Anna Lucia Richter ist in der Titelrolle eine erstklassige Besetzung. Eine Frau, die sich in der Männerwelt behauptet. Sie ist es, die das Heft des Handelns in die Hand nimmt und sich nicht – wie ihr etwas naiver und schwacher Geliebter Piquillo, der alsbald kapituliert und einmal sogar drauf und dran ist, Selbstmord zu begehen – geschlagen gibt. Sie will unbedingt überleben, koste es, was es wolle, und offenbart einen selbstbewussten, unverfrorenen Charakter. Die breite Palette ihrer – auch sängerischen – Gestaltungskunst zeigt sie in der eindrucksvoll dargebotenen Briefszene.
Der Piquillo von David Fischer ist eine zwiespältige Figur. Ein bisschen unbedarft und manchmal zur Passivität neigend, dann aber, in die Ecke getrieben, durchaus auch aggressiv und handgreiflich, wie etwa in der Eifersuchtsszene im 2. Akt. Stimmlich stark in der umfangmäßig nicht einfachen Rolle und sympathisch genug, um von La Perichole geliebt zu werden.
Geradezu eine Entdeckung ist das Josefstadt-Ensemblemitglied Alexander Strömer als Vizekönig Andrès de Ribero. Ein erfahrener Schauspieler und ausgebildeter Bassbariton, der hier – ähnlich wie einst Wolfgang Gasser in der Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz – endlich die Möglichkeit hat – sein breitgefächertes Können in einer tragenden Rolle auszuspielen. Ein guter Sänger und als Sprecher, meist in einem an Paul Hörbiger erinnernden Wienerisch, aber auch – in der Gefängnisszene – als nuschelnder Hans Moser, eine Wucht. Auf erotische Abenteuer aus, verschlagen, eitel und machtbewusst, stets aber auch am Rande der Lächerlichkeit und des Spotts. Ein drolliger und dennoch nicht ungefährlicher Bösewicht.

Gerhard Ernst (Stadtkommandant), David Fischer (Piquillo) und Boris Eder (Erster Kammerherr).
Komische, absurd komische Auftritte steuern die erfahrenen komödiantischen Haudegen Boris Eder und Gerhard Ernst als Panatella, erster Kammerherr, und Pedro de Hinoyosa, Stadtkommandant, bei, ebenso die beiden wie Zwillinge daherkommenden Notare von Paul Graf und Florian Stanek.
Schrille Komik verbreitet das Damenterzett Tania Golden, Bettina Soriat, Alexandras Maria Timmel als die einen Würstelstand betreibenden Drei Cousinen sowie – in diesem Fall durch Susanna Hirschler verstärkt – als die Vier Hofdamen, die in einer der Staatsoper nachempfunden Loge wie Muppets das Geschehen am Hofe verfolgen und kommentieren. Zu erwähnen wäre noch Angelo Konzett, der als alter Gefangener eine Sebastian- Kurz-Parodie des Uralt-Kanzlers abliefert, mit der einzigen Habjan-Puppe, wenn man von einigen Kürzest-Auftritten am Beginn absieht), Fagott zu spielen vorgibt und für Lacher sorgt.
Der wie immer hervorragend einstudierte und gute gelaunte Arnold Schönberg Chor ist in dieser Inszenierung auch darstellerisch sehr gefordert und trägt viel zum Erfolg beim Publikum bei. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, unter der Leitung des kanadischen Dirigenten Jordan de Souza, spürt den insgesamt vierzehn Walzern möglicherweise verborgenen wienerischen Klänge nach, klingt ansonsten aber eher wie eine italienische Opera buffa und lässt den Esprit und die Leichtigkeit der Offenbachschen Musik etwas vermissen. Musikalisch ist diese La Perichole immerhin keine Schlachtplatte, wie sie vom Regisseur dargeboten wird, sondern eher ein Gericht à la Rossini, jedenfalls aber keine französische Haute Cuisine.