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WIEN / TAG: REIGEN

12.02.2020 | KRITIKEN, Theater


Foto: © Anna Stöcher

WIEN / TAG:
REIGEN von Thomas Richter
Frei nach „Reigen“ von Arthur Schnitzler
Uraufführung
Premiere: 11. Februar 2020

Wer „Reigen“ sagt, denkt „Schnitzler“, und als Lockvogel ist er immer noch bestens geeignet. Dabei nennt das TAG für sein „Reigen“-Stück ganz richtig Thomas Richter als Autor. Von dem originalen „Reigen“ hat er gerade drei Worte übernommen: „Ah was – G’sicht“. Bei Schnitzler sagt es in der ersten Szene der Soldat, dem es egal ist, wie die Dirne aussieht. Hier sagt es die Sexarbeiterin zu ihrem impotenten Kunden. Der Rest ist – Eigenbau, und das ist auch gut so. Es ist besser, sich eigene Stücke zu schreiben, statt Vorhandenes zu „überschreiben“ und zu zerstören.

Andererseits – warum dann Schnitzler? Es ist kein wirkliches „Hundert-Jahr-Jubiläum“, wie vorgegeben wird. Sicher, der komplette „Reigen“ wurde 1920 in Berlin erstmals gespielt, aber es ist (in der Bedeutung ähnlich wie die vordatierte „Traumdeutung“) im Grunde „das“ Stück des Jahres 1900. Der „Reigen“ im TAG hält sich auch nicht an die stringente äußere Form, die fast so wichtig ist wie der Inhalt – dass in zehn Szenen die Partner immer so wechseln, dass einer von ihnen mit dem nächsten in die nächste „Sex-Begegnung“ geht.

Kurz, nur weil im Thomas-Richter-„Reigen“ die Figuren auch um Sex kreisen – das stellt noch keinen wirklich stimmigen Bezug zur genialen „Vorlage“ von anno dazumal her. Zumal das neue Stück ja beweisen will und vollgültig beweist, wie anders alles geworden ist… in 120 Jahren. Also wäre ein eigener Titel, der irgendwie auf die Beziehungskrämpfe heute anspielt, ehrlicher gewesen. Aber die billige Werbung die noch immer vom einstigen Skandal-Hautgout ausgeht… auf die hätte man verzichten müssen.

Dabei verdient das, was man auf der Bühne des TAG in 110 pausenlosen Minuten sieht, durchaus Beachtung, zeugt von scharfem Blick auf unsere Welt, bietet Humor, lässt auch Bitterkeit köcheln, und anders als bei Schnitzler führt kaum eine Szene zum tatsächlichen Beischlaft (der einst den Skandal bedeutete). Schließlich ist die Bezeichnung für den heutigen Menschen, „oversexed and underfucked“, oft genug zitiert worden. Da, wo früher die brutale Lust herrschte (und einen Begriff wie „Belästigung“ hat Schnitzler nicht gekannt), stolpert der moderne Mensch über seine eigenen, egozentrischen, grenzenlos umkreisten Befindlichkeiten. Mühselig. Komisch anzusehen.

Heute wird eine Praterhure sich nicht wundern, dass ihr impotenter Freier sie in allen Posen fotografieren und filmen will – sie verlangt bloß Zusatzhonorar. Das Smartphone ist immer dabei, klingelt oft am unpassendsten Ort. Wenn der Chef die – abhängige – Mitarbeiterin schamlos „anmacht“, weil sie angeblich einen Kollegen bei „Tinder“ verärgert hat… diese Art von Erpressung gibt es fraglos oft, muss aber nicht zum Ziel führen. Wenn ein Ehepaar, beide erfolgreich in den Jobs, auch im Schlafzimmer von nichts anderes reden kann. Wenn die Geschäftsfrau zwar ein „Casual Date“ eingeht, wo man allerdings vorher Verträge ausfüllt, was sein darf und was nicht, dann quatscht sie den unsicheren Partner total aus jeder Lust heraus, demütigt ihn mit verbaler Überlegenheit.

Man trifft sich heutzutage in der Yoga-Klasse – und man heiratet sich selbst, schließlich ist das der einzige Mensch, den man wirklich und wahrhaftig liebt. Was bei Schnitzler persönlich keine Rolle spielt, ist heute selbstverständlich: das lesbische Paar, das Scheidung chic findet, das schwule Paar, dessen reicher Partner schräge „Romantik“ kauft (teuer im Iglo)… Gegen Ende werden die Szenen schwächer, enden mit einem Antiklimax, der reichen Dame, die sich einen Callboy für die Nacht gekauft hat und der Tatsache, dass es guter Sex war (wenigstens einmal), beim Erwachen nicht ins Auge sehen kann…

Es ist eine Welt, in der man schmutzige Worte und Taten beschwört (es ist ja so leicht mittels des Nets), aber im Grunde nichts von der elementaren Lust auf Sex mehr empfindet, die früher waltete – als man noch nicht so viel nachdachte, nicht dauernd über sich selbst reflektierte, sich nicht stets beobachtete und eine Rolle spielen wollte.

Das alles bringt ein Großteil des Textes auf den Punkt, und Regie (Dora Schneider) und Darsteller bleiben nichts schuldig. Sie spielen verschiedene Rollen, Petra Strasser ist glänzend als Geschäftsfrau, Michaela Kaspar als Sexarbeiterin und lesbische Polizistin, Lisa Schrammel als die Angestellte, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Im Grunde sind die Frauen die stärkeren im Kampf – Jens Claßen, Raphael Nicholas und Georg Schubert spielen Variationen von Niederlagen im dem Spiel, das heute kaum noch Lust bereitet. Der Autor unserer Zeit hat dazu durchaus Erkenntnisse und Einsichten bereit, die in unsere Gesellschaft hineinleuchten. Das Publikum zeigte sich überzeugt.

Renate Wagner

 

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