© Anna Stöcher
WIEN / TAG:
FAHRENHEIT 451 nach Ray Bradbury
Bühnenfassung von Susanne Draxler und Mimu Merz
Premiere: 3. Oktober 2020
Selbst wenn man das Buch von Ray Bradbury (1920-2012) nicht gelesen hat, ist „Fahrenheit 451“ vermutlich durch den Film von François Truffaut ein Begriff, der 1966 (und seither immer) ebenso durch die Story wie durch die Besetzung mit Oskar Werner und Julie Christie fesselte. Wenn nun die Regisseurin Susanne Draxler und die Video-Künstlerin Mimu Merz eine neue Fassung des Romans geschaffen haben, die im TAG Premiere hatte, kommt man aus dem Staunen nicht heraus: 1953 (!) erschienen, also vor annähernd 70 Jahren, hatte Bradbury, der Sci-Fi-Autor eine gesellschaftliche Vision, die sich seither so gut wie realisiert hat – ohne dass er das geringste vom „World Wide Web“ und den Sozialen Medien ahnen konnte. Und die Aussage „Unsere Enkel werden nicht mehr wissen, was Bücher waren“, könnte sich ohne weiteres bewahrheiten…
Was Bradbury schuf, war eine andere politische Utopie als der „Big Brother“ des George Orwell. Er zeigt den hintergründigeren Überwachungs-Staat, der alles Geistige tötet und den Menschen mit Unterhaltung zuschüttet – vieles davon ist schon passiert. Ist es nicht so, dass der Mensch von heute dermaßen in Netflix, Sky und Disney, in Video-Spiele und Chats eingetaucht ist, dass er zu gar nichts Vernünftigem mehr kommt? Das Element, das immer noch unter die Haut geht (und auch unter die Haut ginge, hätten die Nazis die Bücherverbrennungen nicht vorgemacht), ist darüber hinaus die Idee, man könne Jagd auf Bücher machen – und geschieht es nicht längst durch eine Welt, die nur noch Kürzel nennt und sich minimale „Infos“ allein aus „Omnimedia“, wie es hier heißt, holt?
Bücher, das gefährliche Geistesgut, das Menschen eventuell zum Denken anregen könnte, finden, eliminieren, verbrennen lautet der Auftrag an die Feuerwehrleute. In einer grausamen Umdrehung der Funktionen erinnert man sich gar nicht mehr daran, dass sie einst dazu da waren, um Feuer zu löschen und nicht, um es mit ihren Kerosin-Spritzen zu entzünden… Und wie es totalitäre Systeme schon einmal schaffen, greift die Indoktrinierung: Feuerwehrmann Montag ist überzeugt, das Richtige zu tun, und plappert die hirnverklebenden Sprüche seines Vorgesetzten Beatty nach…
Nun ist, ehrlich gestanden, der Roman für die Bühne nicht allzu spannend – zu sehr liegt die Situation, liegt die Aussage auf der Hand, zu geradlinig verläuft der Prozeß der Erkenntnis für Montag. Allerdings dauert der Abend im TAG kaum mehr als eineinhalb Stunden, und die Bearbeiterinnen haben zwar gelegentlich das Heute (mit den sozialen Medien) eingebracht, hätten aber in irgendwelchen politischen Attacken weit penetranter sein können. Man ist dankbar, dass das vermieden wurde, so läuft die Angelegenheit sauber hinaus auf das Hohelied des Buches als Geschichte des menschlichen Geistes, den es zu erhalten gilt. (Immer schon hat man sich allerdings gefragt, ob es ein Menschenhirn geben kann, das „Die Welt als Wille und Vorstellung“ auswendig weiß…).
Der Abend funktioniert auch durch die Zusammenarbeit der Bearbeiterinnen: Susanne Draxler als Regisseurin ohne Mätzchen, die sich ihre eigene Geschichte nicht zerstört, sondern sie erzählt. Was nicht möglich wäre ohne die Videos von Mimu Merz, die an Fraktalen und Feuervisionen Phantastisches leistet, die Bühne fast den ganzen Abend zur Gänze mir ihren Bildern überzieht (und „Feuerzauber“ liefert, für den manche ideenlose „Walküren“-Inszenierung sie beneiden könnte).
Hier haben es die Schauspieler nicht allzu schwer: Raphael Nicholas als Montag, der Mann, dem die Zweifel kommen, als er es wagt, einmal in ein Buch hinein zu sehen und die Welten ahnt, die sich ihm eröffnen. Er ist gequält von seiner in jeder Hinsicht süchtigen Frau, die nur konsumieren, nicht denken (und schon gar nicht Widerstand leisten) will – eine fabelhafte Leistung von Michaela Kaspar. Mit der Suada der Politiker, die ihre vorgefertigten Sprüche klopfen, ist Georg Schubert der Vorgesetzte von Montag. Lisa Schrammel spielt Clarisse, die Montag überhaupt auf die Idee bringt, dass Widerstand möglich ist, und Jens Claßen hat die wunderschöne Rolle des Faber, der erklären darf, was Bücher für den Menschen bedeuten…
Und so wird eine Jahrzehnte alte Geschichte in einem eindrucksvollen Theaterabend zu Material, das man benützen kann, über das Heute zu reflektieren (und über die Visionen von Science-Fiction-Autoren, die ganz real in die Zukunft sahen). Es gab sehr viel, sehr beeindruckten Beifall.
Renate Wagner