Wiener Stadthalle, 19.12.2018:
„Der größte Schwanensee der Welt“ – altes Russland, englisch gefiltert, chinesisches Ballerinenblut
Keine Angst, der Besucher wird nicht von chinesischen Flutwellen hinweg gespült. „Der größte Schwanensee der Welt“ heißt es zwar als Werbung zum Gastspiel des Shanghai Ballett in der Wiener Stadthalle – eine exzellent getanzte Aufführung – , doch mit der wahren Größe mag es nicht so ganz stimmen. Zwar überfluten mehr und mehr Ballerinen mit ihren weißen Tutus in den beiden Schwanen-Akten die weite Bühne der kleineren Stadthallen-Halle: 48 bestens trainierte Jung-Chinesinnen sind es. Doch die Story der verwunschenen Prinzessin Odette läuft genauso wie gehabt ab. In ganz klassischer Manier völlig perfekt einstudiert, ohne die geringste Überraschung.
Mit „Swan Lake in-the-round“ hatte es 1997 begonnen. Derek Deane, damals Chef des Royal English National Ballet, präsentierte mit seiner Kompanie Peter I. Tchaikowskis Ballettklassiker im großen Rund der Londoner Royal Albert Hall. Ein Riesenerfolg. Das Shanghai Ballett, vor einem halben Jahrhundert gegründet und gut vertraut mit Derek Deane wie mit anderen europäischen Choreographen, hat sich dessen Version des ‘Großen Schwanensees‘ angenommen und 2015 erstmal in Melbourne vorgeführt. Und ist nun zu Gastspielen mit Stationen in Amsterdam, Berlin, Wien nach Europa gekommen. Die Musik klingt klangschön aus den Lautsprechern. So auch die Ansage der Solisten des Abends, dies jedoch weniger verständlich: Ist nun Qi Bingxue oder doch Zhou Jiawen unsere Schwanenkönigin gewesen?
Nochmals: Überraschungen gibt es keine. Nun ja, vielleicht, gleich am Beginn erleben wir, wie während der Introduktion die träumerische Odette vom gewalttätigen Zauberer Rotbart entführt wird. Danach folgt alles, alles – die Hoftänze im königlichen Palast, die sehnsuchtsvollen Reigen der Schwäne oder das große Divertissement – so wie in den diversen klassischen Überlieferung gehabt. Odette und Prinz Siegfried entschweben schließlich in ewiger Liebe verbunden offensichtlich in Richtung Himmel.
Auf höchstem Niveau ist der Standard der Tänzer aus Shanghai einzuordnen. Technisch perfekt, sehr geschmeidig, elegant, in den großen Ensembleszenen faszinierend präzise. Das Problem aber: Deanes Choreographie zielt auf klassische Harmonie, edle Schönheit, entfaltet sich aber nicht zu packend gebündelten Höhepunkten. Dramatisch expressive Aussagekraft ist auch nicht den (ausschließlich chinesischen) Interpreten gegeben. Spannung ist somit keine aufgekommen, und poesievolle Stimmung ist trotz all der gezeigten künstlerischen Qualitäten im atmosphärisch unterkühlten Stadthallen-Rund auch gar nicht zu erwarten.
Meinhard Rüdenauer