Wiener Staatsoper: WOZZECK am 2.4.2013
Eines der intensivsten und aufwühlendsten Werke der gesamten Opernliteratur fand nach einigen Jahren wieder den Weg auf die Bühne der Staatsoper. Es ist verwunderlich, dass die Produktion von Adolf Dresen erst zum insgesamt 35. Mal aufgeführt wurde. Sie hat ja auch schon etliche Jahre auf dem Buckel. Allerdings gehört sie – für mich persönlich – auch zu den unverzichtbaren Inszenierungen der Staatsoper. Nach all den Jahren funktioniert sie, die Ausstattung von Herbert Kapplmüller ist dezent, reduziert und ohne unnötige Kinkerlitzchen, die den Besucher vom Schicksal des Franz Wozzeck und seiner untreuen Marie ablenken.
Wozzeck ist ein Meisterwerk und unglaublich ergreifend – wenn man sich auf die Musik Alban Bergs einlässt. Naturgemäß geht das nur, wenn man unvoreingenommen ist und sich von den schroffen, aber teilweise auch fast zärtlichen Tonfolgen einfangen lässt.
Die Aufführung war sehr gut besucht, der Stehplatz war fast voll, doch anscheinend war etlichen Abonnenten nicht bewusst, was sie erwartet. Gar Unglaubliches gibt es zu berichen..
So hatte sich ein weiß- bzw. blauhaariges Kaffeekränzchen in der ersten Reihe Galerie, direkt vor den Merker-Sitzen, bequem gemacht. Die alten Damen erwarteten anscheinend … nun, keine Ahnung, was diese wirklich erwarteten, aber sicherlich nicht die Intensität eines Werkes von Alban Berg. Vor Beginn kramten sie in ihren übergroßen Handtaschen und JEDE von ihnen brachte einige Lindt-Osterhäschen zum Vorschein, die sie fein säuberlich zum Behufe des Verzehrs vor sich platzierten. Natürlich schälten sie diese nicht aus der Stanniol-Hülle (es ist ja ach sooo lustig, wenn man dann während der Vorstellung rascheln kann), auch einige Schoko-Eier (ungeschält) warteten darauf, ihrem Endzweck zugeführt zu werden. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, dass die Süßigkeiten den Seniorinnen im Halse stecken bleiben und es dann zu einer ungeplanten Pause kommen könnte, aber wider Erwarten ging in dieser Hinsicht alles gut. Den Vogel schossen die Damen allerdings ab, als sie in der kurzen Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt simultan wieder in ihre Taschen griffen und aus den unendlichen Tiefen dieser je ein Fläschchen Magenbitter/Enzian hervorzauberten, dieses öffneten und dann unter wohligem Grunzen den Inhalt in sich hineinschütteten. Ich frage mich – wie kommt man dazu, dies anschauen zu müssen?? Und glauben sie mir, es war unmöglich, da wegzublicken…
Nach diesem Exkurs über die Seltsamkeiten von Opernbesuchern aber zur Aufführung. Sie war sicherlich eine der besten, die ich in dieser Saison gesehen habe. Dennis Russell Davies sprang kurzfristig für Franz Welser-Möst ein und kam so zu seinem Staatsoperndebüt. Nachdem ich den „Wozzeck“ noch nicht so oft gehört habe, maße ich mir kein Urteil über die Feinheiten der Partitur an, doch er dirigierte zügig, sängerfreundlich und ließ dem Orchester, wenn es notwendig war, freien Lauf. Das Publikum bejubelte ihn von allen Protagonisten am meisten – und auch das Staatsopernorchester spendete ihm reichlich Applaus.
Simon Keenlyside sang in dieser Serie erstmals den Wozzeck an der Staatsoper. Beeindruckend seine Wortdeutlichkeit und – wie eigentlich immer – seine Beweglichkeit und Spielfreude. Er musste manchmal, wenn es sehr dramatisch wurde – an seine Grenzen gehen, außerdem kam er etwas zu intellektuell rüber. Von der Persönlichkeit her ist Keenlyside doch eher ein Conte denn ein von der Umwelt gequälter und missbrauchter Soldat.
Die meiner Meinung nach beste Leistung des Abends erbrachte Wolfgang Bankl als amoralischer Doktor. Er dominierte dank seiner Persönlichkeit die Szenen, in denen er anwesend war. Herwig Pecoraro war ein Hauptmann mit etwas sehr schneidender Stimme, mehr feixender Mime denn Offizier. Der Tambourmajor von Gary Lehman war gut gesungen und darstellerisch noch fast eine Spur zu gutmütig.
Sehr positiv fielen wieder Norbert Ernst als Andres (ich bin sicher, dass wir ihn in einigen Jahren entweder als Hauptmann oder Tambourmajor sehen werden) auf, desgleichen Marcus Pelz und Clemens Unterreiner als Handwerksburschen sowie Peter Jelosits als Narr.
Die kleineren männlichen Rollen wurden von Zsolt Temes und Wolfram Igor Derntl ohne Probleme ausgefüllt, ebenso spielte Monika Bohinec die Margret, ohne allerdings dabei einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Etwas enttäuscht war ich von Anne Schwanewilms, deren Verkörperung der Marie nicht ganz dem entsprach, was ich mir erwartet hatte. Sie war stellenweise sehr undeutlich in der Aussprache und überschritt nach meiner Auffassung in gewissen Szenen ihre stimmlichen Möglichkeiten. Die Marie stellte sie extrem berechnend dar – die Liebe zu ihrem Kind nahm man ihr nicht wirklich ab. Es war aber auf jeden Fall eine ganz andere Interpretation, die auch ihre Berechtigung hat – da will ich nicht werten.
Das Ende der Oper ist eines der erschütterndsten überhaupt. Maries Knabe, dargestellt von Ruben Kastelic, alleine auf der Bühne. „Hopp, hopp“ – und so reitet er auf dem Besen in den Hintergrund der leeren Bühne und lässt ein emotional angegriffenes Publikum zurück…
Es ist schön, dass „Wozzeck“ auch im nächsten Jahr wieder gespielt wird. Ich würde diese Oper ja ohne mit der Wimper zu zucken vom dramatischen und intellektuellen Standpunkt aus mit den kompletten Belcanto-Opern und einem Großteil der Verdi- und Puccini-Werke tauschen. Es wäre schön, wenn man pro Saison einen Monat mit Schwerpunkt „20.Jahrhundert“ einplant – die Staatsoper hat genug hervorragende Produktionen im Repertoire, um da wirkliche Highlights zu bringen (Die Tote Stadt, Lady Macbeth von Mzensk, die beiden Britten-Opern, Medea, Lulu, Salome, Elektra…).
Kurt Vlach