Premiere des Wiener Staatsballetts, 26.6.2021: BALLETT GANZ OHNE BALLETTMUSIK
„Symphony in Three Movements“, Choreographie: George Balanchine. Foto: Ashley Taylor
Kinder des Glücks sind auch sie nicht gewesen, die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts in dieser von der Corona-Pandemie geprägten und zersplitterten Saison 2020/21. Interessant hätte diese gewesen sein können: Mit Martin Schläpfer ist ein neuer, hier völlig unbekannter Ballettdirektor älteren Semesters engagiert worden, der mit seinen choreographischen Schöpfungen in erster Linie nach einer Anerkennung durch Publikum und Presse sucht. Und die Frage, wie sich die zuvor von Tanzstar Manuel Legris exzellent gedrillte Kompanie unter den Anleitungen des neuen Chefs weiterentwickeln wird. Oder stagniert, abrutscht? Alles ist zuerst einmal offen geblieben – und somit ist ab September anzunehmen, dass es dem Wiener Staatsballett nicht an interessanten Aspekten fehlen wird.
In dieser zu Ende gehenden Saison durften die Tänzer bloß dreieinhalb Monate auf der Bühne stehen – und dann ist schnell noch vier Tage vor der Sommerpause doch noch eine Premiere, eine einzige Vorstellung, angesetzt worden. Und diese zeigt an, wie es auch im nächsten Jahr weitergehen wird: Ballett ganz ohne Ballettmusik. Nun, die Musik ist diesmal schon sehr anspruchsvoll. Und die einstudierten Stücke haben auch ihre Qualitäten. Routiniers sind an der Arbeit. Kurz eine Charakterisierung dieses Programms (und auch der künftigen neuen Ballettabende): Musik für den Konzertsaal wird vom Orchester unter Robert Reimer (schon wieder ein herbei geholter anderer unbekannter Neuling am Pult) in folgender Reihenfolge aufgespielt – „Symphony in Three Movements“ (Igor Strawinski, 1945 vollendet) / „Pictures at an Exhibition“ (Modest Mussorgskis berühmter Klavierzyklus, 1874) / „Symphonie Nr. 15“ (der symphonische Abgesang von Dmitri Schostakowitsch). Und in der kommenden Saison werden die neuen Ballettabende ausschließlich ohne originaler Ballettmusik vorexerziert: Auf symphonische Partituren oder Klaviermusik von Haydn, Beethoven, Brahms, Schumann, Chopin, Bizet, Mahler – und doch noch auch ein Mini-Johann-Strauß-Bouquet dazu – werden die Ballerinen mit ihren auf zeitgemäß zurechtgestutzten virtuosen Pirouetten und Attitüden brillieren. Einzig nur, vielleicht sehr positiv: Von Choreograph Andrey Kaydanovsky wurde vom Innsbrucker Christof Dienz (Jahrgang 1968, Fagottist und Zitherspieler, früher auch im Bühnenorchester des Hauses engagiert, 1992 Gründer von den echt guten „Die Knödel“) eine eigene Auftragskomposition für die Volksoper bestellt. Wiederaufnahmen von „Giselle“ und „Schwanensee“ bleiben in der kommenden Saison die einzigen romantischen Lichtblicke.
“ Tänze Bilder Sinfonien“ steht über diesem Premierenabend. Seriös gemacht. Das Hauptwerk des Abends ist gleich an den Beginn gestellt. George Balanchine hatte 1972 für das Erinnerungs-Festival seines New York City Ballet für den ein Jahr zuvor verstorbenen Igor Strawinski eine phanatsievolle Choreographie auf dessen Symphonie in drei Sätzen geschaffen. Eines seiner vielschichtigen Meisterwerke neoklassizistischer Prägung: Ein Ballett ohne Handlung, in seinem Stil einigermaßen schwarz auf weiß gehalten; mehrere Paare und ein starker Andante-Pas de deux; in Gruppen dominierende Damen, welche ihren femininen Charme ausspielen dürfen; den musikalischen Intentionen folgend und entlang der kontrastierenden Farbigkeit der doch sehr heiklen Partitur mit dem Bewegungsspiel der Körper fantasierend.
Balanchine steht hier als Wegweiser für Alexei Ratmansky und Martin Schläpfer. Solch eine Ballettästhetik, welche vor einem halben Jahrhundert oder früher modern gewesen ist, wäre nun in der heutigen Folge an ähnlichen choreographischen Bemühungen als ein gut aufbereitetes zeitgenössisches Tanzpanorama einzuschätzen. Die beiden Choreographen folgen ebenfalls den Intentionen der Musik, nun wohl um eine Spur mehr um kleine Erzählungen bemüht. Der St. Petersburger Ratmansky, Jahrgang 1968, ist zuerst für seine Rekonstruktionen klassischer Ballette bekannt geworden, hat sich in Folge von Russland bis in die USA auch als kraftvoller Tanzschöpfer in quickem neoklassischen Stil beweisen können. Seine „Bilder einer Ausstellung“, 2014 für das New York City Ballet geschaffen, lassen sich von russischer Klangphantasie wie von abstrakten Farbkreationen des Wassily Kandinsky inspirieren. Jedenfalls: Mussorgskis kleinen Klaviermärchen wird hier ein impulsives Bühnenleben verpasst.
Sinfonie Nr, 15/ Schläpfer. Foto: Ashley Taylor
Ratmansky und Schläpfer begeben sich in ihrer Manier auf Suche nach neuen Schrittfolgen und Arrangements – etwa der Linie der Intentionen der derzeitigen Choreographen-Riege entsprechend. Wiens Schweizer Ballettchef Schläpfer versenkt sich auf etwas grüblerischere Art. Im Auf und Ab in seiner uraufgeführten Schostakowitsch-Nachdichtung „Sinfonie Nr. 15“ sucht er nach expressiven Situationen und Ausdrucksstudien. Die exzellenten Solisten wie das sehr groß besetzte Ensemble sind voll gefordert, bemüht wird um neue Kombinationen und originelle Positionen gerungen. Massiver Gruppentanz wechselt mit der feinen Artistik in den Episoden der Solisten. Wer dominiert, die Kraft der symphonischen Musik oder die Reize und Figurationen der menschlichen Körper? Nicht als Dornröschen oder Romeo und Julia dürfen sich die TänzerInnen dem Publikum vorstellen, sondern sie wirken wohl eher als edle doch namenlose Virtuosen in den Händen der jeweiligen Choreographen. Eben wie an diesem Abend: Qualitätsvolles Ballett ganz ohne Ballettmusik.
Meinhard Rüdenauer