Schlaepfer: Yuko Kato, Rebecca Horner, Ensemble. Foto: Ashley Taylor
04.12.2020: „MAHLER, LIVE“. – eine Premiere mit Uraufführung ohne Publikum.
Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen – nach der Verschiebung der für den 24. November geplanten Ballettpremiere auf den 4. Dezember konnte auch am neuen Datum keine übliche Premiere in der Staatsoper stattfinden. So gab es am neuen Termin eine Aufzeichnung für das Fernsehen, in Anwesenheit eines kleinen Kreises an Presse. Eine Stunde zeitversetzt erfolgte dann die Online-Premiere als Stream auf ARTE Concert, wo das Programm noch die nächsten 90 Tage abrufbar ist. Der ORF strahlt am kommenden Feiertag in der Matinee-Schiene um 09.05 Uhr am Vormittag die Aufzeichnung der Uraufführung von „4“ aus. Dank der Koproduktion von ORF, UNITEL, C Major Entertainment und ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE sowie der Wiener Staatsoper und dem Wiener Staatsballett ist es damit gelungen, diese Premiere für Publikum zumindest daheim am Bildschirm zu ermöglichen. Durch den Gegensatz der Kleinst-Besetzung für „Live“ und der erhaben präsenten gesamten Compagnie in „4“ ist hier eine spannende Gegensätzlichkeit gegeben, die zum Nachdenken und Nachklingen lassen einlädt.
Schlaepfer: Claudine Schoch, Marcos Menha. Foto: Ashley Taylor
Nach einem sehr geglückten Saisonbeginn mit dem geplanten Programm erlaubte die neuerliche Lockdown-bedingte Schließung der Theater im Vergleich zum Frühjahr jetzt zumindest die Probenarbeit. Und so konnte Wiens neuer Ballettdirektor Martin Schläpfer seine erste Choreografie für sein Wiener Staatsballett unter den schwierigen Bedingungen der Einhaltung aller Hygienemaßnahmen und erforderlichen Testungen dennoch erarbeiten. Sein Plan war es, mit dieser Stückwerdung die gesamte Compagnie – also sowohl die Teile aus Volks- und Staatsoper – gleichermaßen einzusetzen um durch den Prozess der Stück-Entwicklung alle Tänzerinnen und Tänzer kennenzulernen. Für ihn als Choreograf ist es schwierig übe seine eigenen Piecen zu sprechen, wie er in der Pressekonferenz zur Premiere anmerkte, doch will er mit diesem gemeinsamen Schöpfungsakt das Ensemble fordern und im Idealfall inspirieren. Das Kennenlernen der Tänzer erwies sich unter den aktuellen Corona-Bedingungen jedenfalls als nicht so einfach wie ursprünglich geplant, der Alltag ist eben in Ausnahmezeiten für alle ein anderer.
Schlaepfer: Ensemble. Foto: Ashley Taylor
Für seine erste Kreation für Wien hat Martin Schläpfer sich als Komponisten Gustav Mahler ausgewählt – die mehrdimensionale Symphonie Nr. 4 G-Dur ist eine vordergründige heitere, aber dahinter steckt tiefgründig und mehrschichtig trügerisch Idyllisches wie gefährlich scheinbar Schönes oder Sehnsuchtsvolles, es stecken aber auch Brüche und Verwerfungen in der Musik. Martin Schläpfer hat die komplexe Sinfonie mit seiner Choreografie sehr anschaulich in vielgestaltige Bilder umgesetzt, wie ein Puzzle oder Kaleidoskop ergibt erst die Summe aller Sequenzen die Essenz und wird so der Doppelbödigkeit der Komposition in feiner Entsprechung gerecht. Wenn auch keine durchgängige Handlung erzählt wird, findet doch die Musik ihre Umsetzung im Tanz. Schläpfer sieht sein Werk gleichsam als Archipel an unterirdisch verbundenen Inseln. Ausgehend vom klassischen Ballett benutzt er darüber hinaus auch zeitgenössische Bewegungselemente, wird in Spitzenschuhen, Schläppchen und barfuß getanzt. Im harmonischen Einklang mit der Musik wird das vom herrlichen Klangkörper des Orchesters in großer Besetzung unter der gestalterisch umsichtigen Leitung von Axel Kober breit aufgespannte Feld durch die Tänzer aufgenommen und in Bewegung wieder ausgeatmet. Ein sprudelnd facettenreicher Detailreichtum an Bewegungselementen und Schritten, Sprüngen, Drehungen wie Hebungen sind zu sehen; niemals sich verlierend, bilden sich abwechslungsreich Formationen, Kleingruppen, Soli und Pas de deux, erfolgt Tanz der Musik folgend aber auch im aufgefächerten Kanon. Selbst die Stille, die für Bewegung genützt wird, ist eine (an)sprechende. Gleichsam als verbindende Elemente leiten und begleiten Yuko Kato und Rebecca Horner durch das Stück – manchmal eher an Kobolde erinnernd, dann wieder an Schicksal bestimmende Nornen. Es ist eine Choreografie für das gesamte Kollektiv und daher nicht einfach einzelne Tänzer herauszugreifen – und doch hat Martin Schläpfer die besonderen Talente seiner Tänzer bereits erkannt und in der Umsetzung tänzerisch anklingen lassen – so wie bei Denys Cherevychko oder Davide Dato, die mit ihren Sequenzen herausstechen – aber auch für Wien noch weniger bekannte Gesichter wie Claudine Schoch ergänzen zum stimmigen Gesamtbild. Ausgehend von dieser scheinbaren vordergründigen Heiterkeit wechselt die Stimmung zu kraftvoller Tiefe, bis im Finale das versammelte Ensemble als starke Einheit spürbar wird. Slávka Zámečníková hat mit gefühlvollem Sopran im vierten Satz zu den verheißenden himmlischen Freuden geführt, bis sie sich als Teil aller ins Schlussbild einfügte. Der Detailreichtum an kreativer tänzerischer Bewegung wird sich beim mehrmaligen Sehen noch tiefer entfalten – für das Betrachten im Stream liegt die Bildregie in den bewährten Händen von Myriam Hoyer, die mit der von ihr gebotenen Auswahl das Bild für die Zuschauer vervollständigt. Catherine Voeffray entwarf die asymmetrisch geschnittenen Kleider oder Jumpsuit-artigen Kostüme vornehmlich in schwarz, weiß oder royalblau und schuf so Individualität für die Tänzerpersönlichkeiten, wie sie sich auch in der gesamten Gruppe doch unterschiedlich heraus kristallisierten. Florian Ettl (Bühne) und Thomas Diek (Licht) vervollständigen das congeniale Leading Team.
van Manen: Olga Esina. Foto: Ashley Taylor
Der Uraufführung von „4“ hat Martin Schläpfer ein Stück Ballettgeschichte vorangestellt: mit „Live“ hat Choreograf Hans van Manen sein Videoballett erstmals einer anderen Compagnie überlassen. 1979 für das HET National Ballett entstanden, war damals die Idee absolut neu, dass Videoprojektionen in einem Tanzstück eingesetzt werden. Nun, mehr als 40 Jahre später, hat der Altmeister der Choreografie sein richtungsweisendes Werk für Wien adaptiert (Einstudierung: Rachel Beaujean, Kostüme: Keso Dekker, Licht und Produktionsleitung: Bert Dalhuysen). Zu Musikstücken von Franz Liszt („Sospiri!“ aus Fünf kleine Klavierstücke S.192, Bagatelle sans tonalité S. 216a, Wiegenlied S. 198,Nr. 1 bis 4 aus Fünf kleine Klavierstücke S. 192 und Abschied S. 251) – wunderbar einfühlsam wie klangvoll gespielt von Shino Takizava enthüllt sich die besondere Atmosphäre dieser tanzhistorisch bedeutungsvollen Kreation beim Betrachten: der Dialog zwischen Videokamera und Tänzerin. Seit der Uraufführung ist der Mann mit der tragbaren Videokamera Henk van Dijk. Wie er zunächst mit dem Kameraauge durch die fast leeren Sitzreihen streift (neben den wenigen Kritikerinnen und Kritikern sind nur einige Kameraleute und Technik anwesend) bevor die Linse die Tänzerin einfängt und sie begleitet, sodass man sowohl die Tänzerin sieht als auch die Projektion auf die Leinwand auf der Bühnenrückseite im Close up wie Gesamttotale ständig im Blick hat und damit jede kleine Gestik wie Mimik greifbar nahe sichtbar ist, verführt dass zum beinahe voyeuristischen Betrachten. Die wunderbare Olga Esina ist diese ästhetisch wie elegante und selbstbewusste Erscheinung, die von der Kamera verfolgt wird und die sich in der Dopplung der Bilder für das Auge des Zuschauers in intimer Nähe wieder findet. Als sie durch eine Treppe von der Bühne über den Orchestergraben hinaus ins Foyer tritt, um im kleinen Vorraum zum Pausenbuffet auf Marcos Menha zu treffen, bleibt nur mehr die Videoprojektion für die im Zuschauerraum Sitzenden: in einem spannungsgeladenen Pas de deux ist die Kamera und der Kameramann direkt dabei, das Publikum ist nur über die Projektion mitten im Geschehen, wissend, dass alles live übertragen wird. Man begleitet sie auch in den gedanklichen (aufgezeichneten) Exkurs in eine Szene im Ballettsaal bevor Olga Esina dann den bereit gelegten Trenchcoat überzieht und die Staatsoper verlässt – hinaus ins nächtliche winterlich eisig kalte Wien Richtung Hotel Bristol, bevor sie die Kamera im Dunkel der Nacht verliert und sie dann für die Schlussverbeugung wieder zurück auf der Bühne steht – gemeinsam mit dem Kameramann und ihrem Tanzpartner.
van Manen: Olga Esina, Marcos Menha. Foto: Ashley Taylor
Es hat etwas beklemmend Gespenstisches, wenn die Verneigungen ohne Beifall vor dem anwesenden Publikum stattfinden. Man ist irritiert, weil der Applaus fehlt, doch es überwiegt Ergriffenheit über das Gesehene und Dankbarkeit, dass man diesen besonderen Moment der Aufzeichnung im wahrsten Sinne „live“ erleben durfte und damit bei Martin Schläpfers Einstand als Choreograf in Wien anwesend sein konnte. Ira Werbowsky