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WIEN/ Staatsoper: ORLANDO von Olga Neuwirth. Uraufführung im Haus am Ring

Eine „opera performance“ und:  Raus aus der Komfortzone!

08.12.2019 | Allgemein, Oper

Olga Neuwirth: Orlando, Szenenfoto der Uraufführung an der Wiener Staatsoper | Bildquelle: © Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn
Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

WIEN/Staatsoper: Uraufführung im Haus am Ring – Olga Neuwirth: „ORLANDO“

Eine „opera performance“ und:  Raus aus der Komfortzone!

8.12. 2019 – Karl Masek

In den letzten Jahren seiner Direktion wollte Dominique Meyer nicht mehr Prinzipal eines Operntempels sein, dessen Repertoire sich im Wesentlichen aus Werken der Vergangenheit und Vorvergangenheit speist. Opern, die aus der Feder Mozarts, Verdis, Wagners, Puccinis und Richard Strauss‘ stammen. Mithin Werke aus einer so genannten Komfortzone eines oft gescholtenen konservativen Opernpublikums, das tendenziell lieber die großen Meisterwerke vergangener Epochen mit wohligem Wiedererkennungswert besucht als sich auf Abenteuer mit modernen Opern einzulassen. Er wollte den Beweis erbringen, dass sich die Wiener Staatsoper „etwas traut“, dass man sie nicht in die Schubladen „Alte Tante Oper“  oder „Opernmuseum“ stecken darf.

Also hat er Werke von Zeitgenossen, wie Peter Eötvös („Tri Sestri“), Thomas Adés („The Tempest“), Johannes Maria Staud („Die Weiden“), Manfred Trojahn („Orest“) verdienstvoll ins Repertoire gehievt, und eine Uraufführung aus der Direktion Joan Holender (Aribert Reimanns „Medea“) wiederaufgenommen. Wohl wissend, wie schwierig es ist, Zeitgenössisches über einen gewissen Neugierfaktor für ein Uraufführungs-Event (und um die Kulturfeuilletons bei Laune zu halten?) auch im Repertoire zu verankern. Jedenfalls findet die kommende Direktion durch die derzeitige Öffnung des Spielplans ins 21.Jht. einen durchaus respektablen Werkekanon vor, den man sich auch für die „eigene Zeit“ auf die Fahnen heften könnte, will man auf zeitgemäßes, „relevantes“ Musiktheater verweisen.

Jetzt ist es (erstmals in der Geschichte der Wiener Staatsoper, sieht man von Komponistinnen für Kinderopern ab) eine Zeitgenossin, die ein abendfüllendes Werk, ein Auftragswerk, für das Haus am Ring geschaffen hat: Olga Neuwirth.

Da ist es einmal spannend, sich mit der Biografie der Komponistin zu beschäftigen, wenn man die „heutige Olga Neuwirth“ verstehen will. 1968 in Graz geboren und in der Gegend von Deutschlandsberg aufgewachsen, bekam die Tochter des renommierten Jazzpianisten Harald Neuwirth schon im Alter von 7 Jahren Trompetenunterricht. Die ehrgeizige Zielsetzung des hochtalentierten und willensstarken Mädchens, eine Art weiblicher Miles Davies werden zu wollen, zerschlug sich nach einem schweren Unfall. Eine Kieferverletzung zwang sie zur Aufgabe des Trompetenstudiums. Da ging es bald ans Komponieren…

Mit 15 war sie nach eigenen Angaben ein unangepasster Punk, der früh gegen rigide Normen in der Gesellschaft der 80er Jahre rebellierte und in der „wunderschönen, aber auch xenophoben ländlichen Gegend“ der Weststeiermark nach weiblichen Role Models suchte. Ein frühes Kennenlernen der Elfriede Jelinek führte zu nachhaltiger Zusammenarbeit und in kurzer Zeit zur Uraufführung der „Kommunaloper“ Robert der Teufel, 1985 im Rahmen des Jugendmusikfestes Deutschlandsberg. Musik: Neuwirth, Libretto: Jelinek (Übrigens: Leiter des Jugendmusikfestes war damals für einige Jahre ein gewisser Hans Werner Henze).  Frühe Prägungen erfuhr die Neuwirth 1986, mit 18 Jahren, durch ihren Studienaufenthalt in San Francisco, welcher Musik, Malerei und Film einschloss. Wiener Studien der Elektroakustik rundeten ihr Kompositionsstudium weiter ab. Daher ihr Faible für Bühnenräume ohne traditionelle Bühnenbilder, für filmische Umsetzung des Bühnengeschehens, für eine „Fusion aus Musik, Mode, Literatur, Raum und Videos“.  Im musikalischen Teil die Lust an der (elektronischen) Verfremdung eines traditionell erzeugten Klangs. Sänger bekommen zu diesem Zweck auch Microports, um den Stimmklang verändern zu können. Die ersten und zweiten Geigen sind im vorliegenden Fall absichtsvoll um einen Viertelton zueinander verstimmt. Gleichzeitig gibt es aber auch Rückblenden in vergangene Musikstile bis zu wörtlichen Zitaten, wenn eine Zeitreise stattfindet. Der Roman „Orlando“ der Virginia Woolf, die Vorlage für die Fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern, ist eine solche Zeitreise,. Im Jahr 1598 beginnend, in der Fortführung der Woolf-Vorlage bis zum 8. Dezember 2019 – dem Tag der UA – gehend.

Ihre frühe Faszination für das Mode-Label Comme des Garçons von Rei Kawakubo ist bis heute unverändert aufrecht – und damit docken wir an der aktuellen Uraufführung an.

Sie ist in der Tat eine opera performance. Die überladenen Kostüme von Comme des Garçons und die exaltierten Haarkreationen von Julien D’ys haben Blickfang-Charakter, sind theatralisch im ausuferndsten Sinne, überbordend, hypertroph, in allen Farben schillernd – und höchst teuer anmutend. Wer’s exzentrisch mag, kommt da optisch voll auf seine / ihre Rechnung. Allerdings fällt rasch auf, dass hinter all dem Protz & Prunk die Persönlichkeiten der Mitwirkenden zu verschwinden drohen. Ein kleines Wunder vollbringt da der immer wieder großartige Charakter-Sing-Darsteller Wolfgang Bankl in der kleinen Rolle des Dichterkollegen des/der Orlando, „Duke“. Ihn erkennt man am ersten Ton und an der Durchdringung auch der skurrilsten Figur – vergleichbar fast nur mit dem legendären „Weltmeister der Zweiten Rollen“, Heinz Zednik.

Der/die „Orlando“. Der junge Dichter erwacht nach einem seiner wochenlangen Erschöpfungsschlaf-Zustände – als Frau. Es stehen ihr, die ja „als Mensch & Dichter“ gleich geblieben ist, als Frau mühsame Zeiten bevor. Sie wird nur mehr körperlich wahrgenommen. Von ihrem Werk nimmt man kaum Notiz. Das Victorianische Zeitalter (wie Emilia Marty in Janáčeks Vec Makropulos ist sie jetzt 300 Jahre alt, ohne zu altern!) erlebt sie in der scheinheiligen Fassade mit „Heiler-Welt-Demonstration“ und der Hilflosigkeit der Abhängigen von den (Kirchen)Mächtigen bis hin zum Kindesmissbrauch. Wie hier das Weihnachtslied „O Tannenbaum“ zitiert oder die Betulichkeit eines protestantisch-katholischen Kirchenliedes, das vermutlich auch die Neuwirth in Kinderzeiten, in sogenannten Jazz-Messen der 70er- Jahre gesungen hat (Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag…) musikalisch verzerrt und mit einer zynischen Textverfremdung versehen wird, das geht unter die Haut.

Bis dahin ist der Abend ein packendes, bildmächtiges, eindrucksstarkes und ausdrucksgeladenes  „opera-performance“- Erlebnis. Polly Graham (Regie) führt die Menschenmassen auf der Bühne gekonnt. Die Bühne (Roy Spahn) wird beherrscht von Video-Paneelen, die in zeitgeistiger Ästhetik rasch wechselnde Bilder zaubern: eine Gletscherlandschaft, eine Bibliothek, …(Video: Will Duke, Licht: Ulrich Schneider)

Ein Trainingsgerät, auf das sonst Boxer eindreschen, hängt als Metapher für das Ankämpfen gegen aufoktroyierte Normen, für Geschlechter-Identität, gegen das Kriegselend und wird gebührend malträtiert.

Jedoch: je weiter man sich von der literarischen Vorlage (Virginia Woolf starb 1941) in die Gegenwart zubewegt  (nach 1941; beklemmend dabei die Sequenz des Doppelkonzerts von J.S. Bach, eingeblendet von Vater und Tochter Rosé, die dem Holocaust zum Opfer fielen – dazu eine Glasharmonika!), umso mehr verfestigt sich jedoch der Eindruck, der „rote Faden“ sei dem Librettisten-Tandem Catherine Filloux/Olga Neuwirth verloren gegangen. Die Video-Clips bekommen schwindelerregend rasche Comic-Atemlosigkeit und damit auch willkürliche Austauschbarkeit. Wochenschaubildhaftes von den Kriegsgräueln changiert mit  schrill-Popigem (die Porträts, die dem Publikum die Zunge herausstrecken). Die Statements mutieren von wortgewaltig, beinahe mitreißend vorgetragen (eindrucksvoll: Anna Clementi mit markanter, auch schöner Sprache, in der Rolle des „Narrator“) zu ziemlich penetranter Agitation.  Geschuldet ist dies einem ausufernden Wiederholungszwang. Dann wird’s mitunter auch peinlich plakativ (Sei einfach, der du bist). Und es  stößt auch eine durchschimmernde Selbstbeweihräucherung von „Orlando/O.N.“ sauer auf, wenn ein bisschen zu oft betont wird, trotz aller Widerwärtigkeiten der Gesellschaft, der Welt, würden „Orlando/O.N.“ weiterschreiben, denn: Niemand hat das Recht zu gehorchen!

Fazit: Das Werk ist im 2. Teil um die berühmte halbe Stunde zu lang!

Freilich: Olga Neuwirth hat allein beim Kompositionshandwerk was los! Sie hat Inspiration, kann virtuos mit Klangfarben spielen.  Unterschiedliche Kompositionstechniken sowie  Überblendungstechniken  mit Live-Elektronik & Sounddesign und die Stimmbehandlung der Sänger/innen vom Countertenor bis zum Bassbuffo handhabt sie mit großer Könnerschaft. Wie sie etwa die Stimme des 16-jährigen Orlando im ersten der 19 Bilder behandelt (I am alone…), ist von tiefem Eindringen in die menschliche Psyche durchdrungen. Eine quasi pubertäre Sprech- und Singstimme, kurz nach dem Stimmwechsel wird hier imaginiert.

 Da wird es Zeit, Kate Lindsey  gebührend zu preisen. Sie ist für sich einen Abend lang ein Gesamtkunstwerk! Sie zeigt nicht nur spannend ein Durchschreiten von jahrhundertelangem Lebensalter ohne nennenswerten Alterungsprozess mit allen Feinheiten der Körpersprache und der stimmlichen Beherrschung. Sie schraubt ihre kostbar timbrierte Stimme in tolle Mezzosopran-Höhen. Ihr werden auch kantable Legatobögen genehmigt – da wird’s gelegentlich doch recht opernhaft!

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Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Unmöglich, alle Mitwirkenden zu erwähnen! Der Programmzettel listet (inklusive Band auf der Bühne) 32 Mitwirkende auf. Stellvertretend für eine exzellente Ensembleleistung seien genannt: Eric Jurenas als Guardian Angel, der den Dichter/die Dichterin schützend begleitet (späte Nachfahren von Hoffmann/Niklausse?). Sein markanter, auch scharf getönter Counter ist wohl Avantgarde-Spezialist und kommt  im März 2020 bei der „Tri Sestri“-Wiederaufnahme zurück. Eine hinfällige „Queen Elizabeth I. im Popanzkostüm mit „nach Kampfer riechendem Pelz“ stellt Constance Hauman sing-sprechend und rollengerecht bereits ziemlich verschrumpelt auf die Bretter. Agneta Eichenholz leiht ihre gleißende, höhenstarke Stimme  zwei Rollen: „Sasha“, in die sich der Jüngling Orlando verliebt, und „Chastity“, eine der allegorischen Figuren. Leigh Melrose (Bariton mit besten Falsett-Fähigkeiten und toller Bühnenpräsenz) sticht als eitler Dichterkollege „Green“ heraus und verwandelt sich hurtig in „Shelmerdine“, den Kriegsfotografen, der Orlando heiraten wird. , Margaret Plummer, Marcus Pelz, Carlos Osuna, Wolfram Igor Derntl, Hans Peter Kammerer, Ayk Martirossian: sie alle mit bester Ensemble-Disziplin in Nebenrollen.  Emil Lang hat Hoffnungsworte als „Putto“ zu singen – das macht er gut –  und entschwebt ziemlich kitschig in den Schnürboden.

Matthias Pintscher ist als Dirigent mit Olga Neuwirth schon lange verbunden. Zuletzt haben beide bei Wien Modern 2017 mit Suggestivität bei „Le Encantadas“ in eine ganz wundersame musikalische Kakophonie und – ebenfalls mit Riesenaufwand – Kopfkino betrieben. Keiner könnte kompetenter sein, den Neuwirthschen Klangkosmos so souverän umzusetzen wie er. Er handhabt den Riesenapparat mit der totalen Übersicht, steuert mit glasklarer Schlagtechnik, navigiert den musikalischen Riesentanker bestechend.  Er wird dabei kongenial unterstützt vom Team an den Reglern der Live-Elektronik und dem Sounddesign: Markus Noisternig, Gilbert Nouno, Clément Cornuau – und auch hier: Olga Neuwirth, die Allgegenwärtige. Der Teil des Orchesters der Wiener Staatsoper, der sich in dieses Klangabenteuer gestürzt hat, bewies Einsatz und Avantgarde-Solidarität.

Bewundernswert, was die Kinder und Jugendlichen der Chorakademie der Wiener Staatsoper auch an diesem Abend wieder geleistet haben! Johannes Mertl ist als Chorleiter wohl ein Motivationsweltmeister und allesamt bescherten sie mit ihren Auftritten berührende Highlights. Chapeau! Wertschätzendes Feedback für den Chor der Wiener Staatsoper für eine Leistung der Extraklasse (Einstudierung: Thomas Lang, Stefano Ragusini, Svetlomir Zlatkov).

Mit sagenhaftem Aufwand wurde diese Uraufführung vorbereitet und schließlich auf die Bühne gewuchtet. Das Ganze war sicher auch eine kostspielige Herausforderung. Bei der Überfülle der Eindrücke (insgesamt wollte man da wohl zu viel auf einmal hineinpacken) stellt sich als Resümee auch das Gefühl ein, sich an diesem äußerst  opulenten mehr als dreistündigem vielgängigen Menü ein bisschen „überessen“ zu haben. Alles zu verstehen, alles zu „verdauen“, das ging wohl nach nur einem Besuch nicht…

 Premierenerfolg (der helle Jubel eines Teiles des Premierenpublikums klang da wohl ein bisschen übersteuert), Buhrufe, die es ebenfalls gab, seien nicht verschwiegen.

Bliebe es bei bloß 5 (derzeit geplanten) Aufführungen: Da wäre dieser Aufwand schwer zu rechtfertigen. Wie wird sich die nächste Staatsoperndirektion entscheiden?

(Reprisen am 11., 14., 18. und 20.12.)

Karl Masek

 

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