12.2.: Ballettpremiere in der Wiener Staatsoper:
„MEISTERWERKE DES 20. JAHRHUNDERTS“ mit dicken Wurzeln in Frankreich und im 19. Jahrhundert
Olga Esina. Foto: Barbara Zeininger
Die künstlerische Ausbildung von Wiens Ballettchef MANUEL LEGRIS ist fest in der Tradition des Balletts des Théatre National de l´Opéra de Paris verwurzelt. Als einer der Étoiles dieser großen Kompanie blickt er auf eine erfolgreiche Solistenkarriere zurück. Selbst noch nicht als kreativer Choreograf hervorgetreten, ist er nun auch in seinem zweiten Jahr als Leiter des Wiener Staatsballetts bemüht, etwas von den tänzerischen Qualitäten und Finessen der Pariser Schule nach Wien zu verpflanzen. Sein Feilen an stilistischer Verfeinerung des Ensembles findet Zustimmung bei Publikum und Presse. Und Operndirektor DOMINIQUE MEYER, ebenfalls französischer Import, ist nach einigen weniger positiv aufgenommenen Operninszenierungen nun mit Ambition dabei, den jungen Tänzern ein aufgewertetes Renommee im Spielplan der Staatsoper zu bieten.
Legris geht in seiner Programmierung vorläufig nach wie vor auf Nummer sicher, setzt solche Werke an, mit welchen er selbst aus seiner Tänzerlaufbahn bestens vertraut ist. Eine dreiteilige „Hommage an Roland Petit“ war ursprünglich für diesen Premierentermin vorgesehen gewesen. Doch der Tod des französischen Choreografen im Juli des Vorjahres hat die Ballettleitung zu einer Programmänderung veranlasst. „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ heißt es nun etwas vage als Übertitel für die drei sehr unterschiedlichen Piecen, welche zum Teil im 19. Jahrhundert verwurzelt sind. Völlig der Ästhetik der ausklingenden späten Romantik hingegeben ist „Suite en blanc“, eines der immer wieder angesetzten Paradestücke des Pariser Opernballetts. Serge Lifar, der drei Jahrzehnte als danseur étoile, maitre de ballet und Choreograf bis 1958 als stilprägender wie dominanter Regent in Paris wirkte, führt in dieser 1943 kreierten Abfolge von tänzerischen Gustostückerln zu eingängiger und farbiger Musik von Edouard Lalo (Exzerpte aus dem exotischen Seeräuberballett „Namouna“, Pariser Oper 1882) in die illusionäre Welt des Ballet blanc. Virtuos wird etwa in Sérénade & Pas de cinque & Adage & La Mazurka & einem fulminanten Finale mit quirligem Defilee das Abc des „Weißen Balletts“ demonstriert. A la mode auf romantische Art mit weiß gekleideten Ballerinen und ihren Kavalieren. Weiße Korsagen, Knieröcke, Tutus, Hemden, Trikots auf der sonst leeren Bühne. Und zwischen den kunstfertig arrangierten synchronen Schrittfolgen und Posen der Gruppentänzer haben die Solisten ein artistisches Feuerwerk und immer wieder Noblesse-Attitüden abzuliefern. Sehr anständig vorgeführt wird dies jetzt in der Staatsoper. OLGA ESINA, IRINA TSYMBAL, NINA POLÁKOVÁ, KIYOKA HASHIMOTO, ROMAN LAZIK, DENYS CHEREVYCKO und ihre Kollegen trumpfen mit tänzerischem Können auf. Es ist schon klar, dass sich die Poesie und der leichtfüßige Zuschnitt und alle Raffinessen des in Paris gepflegten und gewachsenen Stiles nur partiell imitieren lassen. Wiens Ballettfreunde dürfen sich aber nun ganz sicher an einem Artefakt, welches auf ästhetische Ornamentik wie auf feminine Grazie und geziert überhöhte Körpersprache ausgerichtet ist, erfreuen.
Nummer zwei im derzeitigen Meisterwerke-Angebot ist „Before Nightfall“ (1985) des Schweden Nils Christe. Dies mag vielleicht kein echtes Prachtstück sein, doch es überzeugt als ein im fließenden Duktus der 80er Jahre handwerklich perfekt geformtes und abstraktes Beziehungsspiel zu spröder aufwühlender Musik von Bohuslav Martinu (Doppelkonzert für Klavier, Pauken und zwei Streichorchester). Die abwechselnd in den Mittelpunkt gerückten Paare erzielen mit forcierter Dynamik immer wieder neue dramatisch aufgedonnerte Akzente, ohne aber dass sich bei dem raschen Wechsel an fluktuierenden Emotionen nachhaltige Überraschungsmomente einprägen.
Mit „L’Arlésienne“ geht es an diesem Abend nochmals zurück ins 19. Jahrhundert. Dem gleichnamigen Drama von Alphonse Daudet aus dem Jahr 1872, welches Georges Bizet mit einer umfangreichen Schauspielmusik veredelt hatte, ist kein großer Erfolg beschieden gewesen. Doch die von Bizets daraus erstellten zwei „L´Arlésienne“-Suiten mit Pastorale, der schmissigen Farandole, der stimmungsvollen Entr´act-Musik, Carillon und Marsch zählen zu den Kostbarkeiten französischer Musikkultur. Roland Petit hat für sein Ballett aus dem Jahr 1974 zu dieser duftigen und klangschönen Musik die Thematik von Daudets Liebesdrama aufgegriffen: An seinem Hochzeitstag kommt einem provencalischen Bauernjungen die Erinnerung an eine unerfüllte Leidenschaft zu einer fernen Geliebten auf. Er flüchtet vor seiner Braut, kämpft mit sich, stürzt sich in den Tod. Die fröhlichen Reigen der Burschen und Mädchen, stets im völligen Gleichklang ihrer Gesten und Schritte, kontrastieren mit dem inneren Drama der beiden Protagonisten.
KIRILL KOURLAEV vermittelt mit Reinheit und voller Präsenz den Zwiespalt des Bräutigams. MARIA YAKOVLEVA steht ihm mit zärtlicher Empfindung an Ausdruckskraft nicht nach. Doch das finale Solo des Burschen, von Petit auf extrem virtuos getrimmt, fixiert das Augenmerk ganz auf diese hochexpressive Rolle. Der Lohn, gleich bei der Premierenfeier ausgesprochen: Der Moskauer Kourlaev (und nun schon über zehn Jahre in Wien engagiert) ist in der Hierarchie vom Solotänzer zu einem Ersten Solotänzer aufgerückt.
Also: ein sehr ansprechender Abend. Für „L´Arlésienne“ hat RENÉ ALLIO eine Vincent van Gogh nachempfundene hell vibrierende Provence-Vedute entworfen. „Suite en blanc“ gibt sich weiß vor schwarzer Drapierung. In „Before Nightfall“ wird eine düstere Dämmerstimmung beschworen. CLAUDE BESSY, LUIGI BONINO und JEAN PHILPPE HALNAUT sind aus Frankreich angereist, um Manuel Legris bei den Einstudierungen zu unterstützen. Der Finne MARKUS LEHTINEN (und bereits wieder ein anderer neuer Maestro am Dirigentenpult) hat mit dem gut folgenden Orchester den musikalischen Bogen von heute ins 20. Jahrhundert und weiter ins 19. und wieder zurück ruhig und sachdienlich bewältigt und die Kompanie zu einem schönen Erfolg geführt.
Meinhard Rüdenauer