Fotos: Wiener Staatsoper / Pöhn
WIEN / Staatsoper:
LUCIA DI LAMMERMOOR von Gaetano Donizetti
Premiere: 9. Februar 2019
Sir Walter Scott, Romantik, Schottland, 1700. Wald, Park, Schloß, Festsaal, Turm, Gruft… muss natürlich alles nicht sein, wird auch von niemandem mehr geboten, würde ein junges Publikum vermutlich langweilen. Nein, basta, das darf nicht sein. Also ein anderer Zugang zu „Lucia di Lammermoor“: Regisseur Laurent Pelly hat es, wie er selbst sagt, mit den Träumen und Alpträumen. Weiterer konzeptioneller Schwerpunkt: Lucia ist von Anfang an verrückt, der Bruder auch ein bisschen, es liegt in der Familie. Und übrigens: Wahre Liebe von Seiten des Tenors ist es keine, alles Kampf, Politik, böse Menschen, inmitten ein junges Mädchen, das unter die Räder kommt. Die Musik Donizettis mag so manches anders erzählen, das ist jedenfalls das Konzept der Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper. Dazu schneit es viel am Anfang und dann wieder am Ende: Kalt ist es in Schottland, tot sind die Seelen.
Sind Träume farbig? Offenbar nicht. Eine düstere schwarz-weiße Welt der abstrakten Formen (Bühne: Chantal Thomas) bildet den Rahmen, nur für die Wahnsinnsszene ist dann alles in Rot getaucht – nicht so originell, aber immerhin, ja, stimmig. Aber eines steht fest: Optisch ist es eine ziemlich öde, in ihrem steten Halbdunkel auch ermüdende Welt, in die das Schicksal der armen Lucia gestellt wird. Könnte ein Regisseur meinen, dass solcherart die Sänger-Darsteller besser zur Geltung kommen, wenn kein konkretes „Milieu“ ablenkt? Tatsache ist doch, man kann es nicht anders sagen, dass die Protagonisten und der Chor im irrealen Raum herumstehen. Konzepte erfinden und erklären ist allemale einfacher, als sie in Bühnenleben umzusetzen.
Man würde auch feststellen, dass sie „anders“ agieren, wenn man es nicht gesagt bekommen hätte. Vor allem Lucia muss von Anfang an das Verschreckte, Verhuschte, manchmal auch Verbogene bieten (schräg gelegter Kopf, irrer Blick, zuckende Bewegungen), das man sich bei Irren vorstellt (wie man es eben aus dem Kino kennt). Dazu hat der Regisseur als sein eigener Kostümbildner sie in eine regelrechte graue Maus verwandelt. Künftige große Lucia-Sängerinnen werden diese Voraussetzungen nicht lieben…
Beim Bruder käme man weniger darauf, dass auch er aus der Spur geraten ist, aber dass wir es mit einem kalten, distanzierten Edgardo zu tun haben, das wird klar. Und dann jene „Regie“, die in – zweifellos bewusstem – Kontrast zur Musik steht: Da erklingt eine fröhliche, lebhafte Hochzeitsgesellschaft (die Gäste wissen ja nicht, welche Tragödie sich hier abspielt), aber bei Pelly schreitet eine schwarz gekleidete Menge gemessen wie zu einem Begräbnis. Was ja wohl seinem Konzept entspricht… Auch sonst steht der Chor gern wie Ölgötzen herum, wenn er sich nicht zu Beginn des zweiten Teils (bei der fortgesetzten Hochzeit) geradezu unsinnig bewegt – ein bisschen Hüftenwackeln? Hier übrigens auch eine „Pointe“ der seltsamen Art: Lucia wird erwartet, alle sehen nach hinten, schließlich hat Raimondo sie von dort angekündigt – und sie schleicht links vorne herein. Eine Marginalie, aber so sinnlos wie manches andere auch.
Die szenisch so „andere“ Lucia hört sich auch anders an. Man kann sein Geld darauf verwettern – Maestro Evelino Pidò steht dafür -, dass jede Note, die an diesem Abend gespielt wird, originaler Donizetti ist. Nicht mehr und nicht weniger. Oder nur mehr, wenn vorgesehen: Die Kadenzen der Lucia-Arie darf man der jeweiligen Interpretin in die Kehle schreiben. Aber ohne Begleitung. A cappella. Gewiß, das macht es schwerer, umso besser. Aber so begeisternd fällt es eigentlich nicht aus. Der Rest der Wahnsinnsarie: mit Glasharmonika, selbstverständlich, das klingt auch sehr schön, wenn man sie wahrnimmt (was gar nicht so häufig der Fall ist). So war es von Donizetti ursprünglich gewünscht. Dennoch – Tradition, Tradition, die verachtete Tradition -, die Diven, die meinten, im Duett mit einer Flöte (einer philharmonischen Virtuosenflöte gar…) kämen sie am glanzvollsten zur Geltung, hatten so unrecht nicht: Die Gruberova mit der Flöte, das war der Opernhimmel. Hier plumpst die bedauernswerte Hauptdarstellerin (samt dem Publikum) eher unsanft auf die Erde. Die geborenen „Lucias“ haben schon gewusst, warum sie sich die Wahnsinnsarie „einrichteten“: Im Original ist sie nämlich gar nicht so furchtbar spektakulär…
Zumal die wirklich hohen Töne fehlen. Wo jede Repertoire-Lucia in der früheren Inszenierung ihre virtuosen Über-Drüber-Spitzentöne losgelassen hätte, müssen die Sänger (Lucia, aber auch Edgardo) hier eisern hinunter singen. Nicht einmal einen letzten wirklich hohen Ton darf Lucia von sich geben, bevor sie in einer Männerschar (Chor) „verschwindet“: Ein Beweis dafür, wie sehr sie „Opfer“ der Männerwelt ist? Ein Beweis dafür auch, dass man die Frage von Purismus und Tradition wieder aufwerfen sollte – Tradition beruht ja auch auf Erfahrung und Praxis…
Pidòs Dirigat hört sich auch manchmal langsamer an als gewohnt (sicher stehen die geschleppt gefühlten Tempi als Vorschrift da), und es wird nur gelegentlich wirklich feurig: Es ist verboten, ein Werk wie dieses, das an sich so reich ist, noch anzuheizen. Billiger Effekt. Natürlich. Aber… Einwände verboten. Ja, diese „Lucia“, normalerweise eine mitreißende Oper, tickt diesmal anders.
Olga Peretyatko darf man schon als Opfer des Konzepts betrachten. Hätte sie Temperament und Lebendigkeit zeigen dürfen, statt meist verschüchtert herumzuzucken, hätte man sie angezogen, wie es ihrer Schönheit entspricht – was für eine Lucia wäre da auf der Bühne gestanden! Das Publikum wäre ihr a priori zu Füßen gelegen. Dass sie die Rolle singen kann, steht außer Zweifel, sie gibt sich besonders viel Mühe, das junge, unsichere Mädchen auch mit schlanker Stimme zu versehen, Mezzavoce und Piani funktionieren. Einen Teil ihrer Arie muss sie liegend singen (das ist eine Zumutung), die Kadenzen werden ihr zum eindrucksvollen Verzweiflungsausbruch, aber das, was die verwöhnten Wiener von einer Lucia verlangen, die ultimative Brillanz, das wird nicht nur nicht gefordert, das wird nicht erlaubt. Einzelne Buh-Rufe für die Sängerin beim Solovorhang waren so unhöflich wie ungerechtfertigt. Sie war ein Opfer. Tatsächlich. Ein Opfer der Männer…
Juan Diego Flórez hat seine Stimme fraglos verbreitert, wie es das neue Fach verlangt, seine Bomben-Höhen sind dabei unbeeinträchtigt. Das „kalte“ Timbre, das er die längste Zeit einsetzt, passt zum geforderten Rollenumriss des Mannes, der nicht wirklich liebt, sondern Lucia aus Berechnung heiraten will. Tatsächlich scheint der Edgardo erst in den letzten Minuten, wenn er sich zum Sterben hinlegt, glücklich – da merkt er offenbar, dass er Lucia geliebt hat, seine starre Miene löst sich, die Stimme wird weicher. Bemerkenswert. Aber eigentlich – zu spät.
George Petean als böser Bruder mag zwar wie ein solcher aussehen, singen und spielen darf er ihn kaum andeutungsmäßig, auch er ist in seinen Möglichkeiten reduziert (wie schön war das früher, wenn Lucia sich mit ihrem Bruder wahre Psychoschlachten geliefert hat, statt nur umstet herumzuzappeln).
Jongmin Park ließ als Raimondo eine der schönsten Stimmen des Abends hören. Lukhanyo Moyake als unglückseliger Bräutigam Arturo musste, Hände an der Hosennaht, herumstehen wie ein Schüler, der auf die Schelte des Lehrers wartet, und brav singen. Virginie Verrez als Gefährtin Alisa „übersang“ in der gemeinsamen Szene die absichtlich reduzierte Lucia im Volumen, und der Tenor von Leonardo Navarro empfahl sich für stufenweisen Aufstieg (vielleicht demnächst schon Arturo?).
Es war ein Abend, aus dem alle Lebendigkeit, alles Donizetti-Blut entwichen war. Hätte es statt des düsteren „Seelenstücks“, das bleischwer auf uns lastet, eine wirklich schöne italienische Oper gegeben – man hätte mit Wonne getauscht. Das Premierenpublikum feierte die Sänger. Die Buhrufe für Pelly waren nicht wirklich heftig, aber eindeutig. Überzeugt hat seine Inszenierung nicht.
Renate Wagner