WIEN / Staatsoper: LA BOHÈME
452. Aufführung in dieser Inszenierung
19. Jänner 2023
Von Manfred A. Schmid
Nach der erfolgreichen Wiederaufnahme von Puccinis La Bohème, in der unvergessenen Harry-Kupfer-Inszenierung an der Volksoper im Herbst, nun also wieder einmal die an der Wiener Staatsoper längst zu Legende gewordene Inszenierung von Franco Zefirelli, die sich als besonders langlebig über Jahrzehnte im Spielplan erhalten hat und immer wieder – zuletzt am Beginn der Herbstsaison mit Netrebko als Mimì – aufgeführt wird. Beide Herangehensweisen habe ihre Meriten. Bei Zefirelli, von dem auch das Bühnenbild stammt, steht das Atmosphärische des Pariser Künstlerlebens und das nostalgisch-romantische Ambiente des bunten Treibens an der Seine im Vordergrund. Damit stellt er einen gut zu füllenden Rahmen für die Geschichte der tragisch endenden Liebe zwischen dem jungen Poeten Rodolfo und der todkranken Näherin Mimì zur Verfügung, nicht zu vergessen auch das ewige Auf und Ab in der Beziehung des Malers Marcello zur Lebedame Musetta. Kupfer hingegen legt sein Augenmerk mehr auf die Charaktere, die in dieser Geschichte involviert sind. Er versucht herauszufinden, warum sie sich so benehmen und warum sie so aufeinander und auf bestimmte Herausforderungen reagieren. Kupfers Personenführung geht dabei von einer Art sozialer und charakterlicher Anamnese aus, während für Zefirelli vor allem die Interaktion an sich im Mittelpunkt seines Interesses steht.
In den Reihen derer, die diesmal Zefirellis Rahmen mit Leben erfüllen, ist gleich von vier – mehr oder weniger gelungenen – Rollendebüts zu berichten. Eines davon ist das von Rachel Willis-Sörensen. Die amerikanische Sopranistin, nach Desdemona und Marguerite jüngst als Rosalinde in der Silvester-Fledermaus durchaus erfolgreich eingesetzt, begibt sich als Mimì auf ein nicht ganz für sie geeigneten Terrain. Für die zarte, zerbrechliche Näherin ist ihre Stimme eine Spur zu mächtig. Man merkt, dass sie sich bemüht, sich etwas zurückzunehmen, aber es will ihr nicht so recht gelingen. Mimis rührende, teils schüchtern, teils leicht flirtend vorgetragene Vorstellung in der Arie „Sì. Mi chiamano Mimì“ verliert dadurch viel von ihrem bezwingenden Reiz. Dem Piano-Pianissimo in der Sterbeszene fehlt dann die warme Glut, die da noch glosen sollte. In den Duetten mit Rodolfo klappt es besser, am besten präsentiert sie sich im dritten Bild bei ihrer Aussprache mit Marcello im Schneetreiben einer eisig kalten Winternacht.
Neu sind auch die drei Künstlerkollegen Rodolfos. Dass Boris Pinkhasovich einen kraftvollen, wohlklingenden Bariton hat, ist in Wien schon längst bekannt. Das Ensemblemitglied hätte es daher gar nicht nötig, sich das Herz aus dem Leib zu singen. Gerade das aber tut er als Marcello in Überfluss und singt, immer zu voller Lautstärke aufgedreht. Auch darstellerisch drängt er sich zu sehr in den Vordergrund driftet allzu bald ins Outrieren ab. Gefragt wäre ein Kavaliersbariton, geboten wird ein Schlachtross.
Nicht so viel zu singen wie der Maler Marcello hat der Musiker Schaunard. Stefan Astakhov, der aus dem Opernstudio kommt, aber auch schon den Figaro im Barbiere gegeben hat, setzt seinen lyrischen Bariton wohldosiert ein und hinterlässt einen guten Eindruck.
Selbstverständlich geht in der Künstler-WG hoch her. Da versucht schon der einen den anderen zu übertrumpfen. Peter Kellner bringt sich da voll ein, gestaltet aber, als er, wie alle anderen auch, sein Bestes hergibt, um das Geld für die Arztkosten aufzubringen, seine Arie „Vecchia zumarra, senti“ mit nobler Zurückhaltung. Ein leises Abschiednehmen von seinem Mantel, wie es sich für einen Philosoph eben gehört.
Benjamin Bernheim, als Rodolfo nicht neu, bestätigt mit seiner jugendlichen, strahlend hellen, mit einem metallischen Kern ausgestatteten Stimme erneut, dass er keine Hoffnung mehr ist, sondern längst in die vorderste Reihe der maßgeblichen Tenöre der Gegenwart aufgeschlossen hat. Ein lyrischer Tenor mit heldischem Potenzial. Genau das, was in dieser Rolle gefragt ist. Auch darstellerisch gelingt ihm ein eine feine Gestaltung eines Mannes, der in Liebe entflammt ist, vor dem sich abzeichnenden tragischen Ende davonläuft und es bis zum Schluss nicht wahrhaben will. Die stärkste Leistung des Abends.
Die Musetta der Rollendebütantin Anna Bondarenko wirkt stimmlich etwas zu leichtgewichtig. Soubrettenhaft und wenig eindrucksvoll. Das erwartete „Ahh!“ des Publikums bei ihrem Auftritt bleibt diesmal aus.
Hans Peter Kammerer ist ganz passabel in der Doppelrolle Benoit/Alcindor, Juraj Kuchar ein tadelloser Parpignol.
Wenig Anlass zur Freude liefert diesmal das Staatsopernorchester. Schon die ersten Akkorde klingen verhuscht. Ob es allein an der koreanischen Dirigentin Eun Sun Kim liegt, dass es jede Menge misslungener Einsätze gibt und die Abstimmung zwischen Bühne und Orchestergraben zu oft nicht klappen will, oder an irgendwelchen unergründlichen Dissonanzen*) in den Reihen der Musiker? Ist die Beziehung Orchester – Dirigentin nachhaltig gestört? Tatsache ist, dass das die drei Trompeter wenig kümmert, weil sie sich, wenn sie nichts zu spielen haben, köstlich unterhalten. Oder tun sie das aus Langeweile? Irgendetwas ist jedenfalls faul an diesem Abend im ansonsten so gelobten instrumentalen Klangkörper des Hauses.
Ein ziemlich durchwachsener Abend. Dennoch gibt es Beifall in Hülle und Fülle.
*) Anmerkung: Das „Unergründliche“ in der schlechten Verfassung des Orchesters ist vielleicht doch erklärbar, wie ein spät bei mir eingelangter Hinweis vermuten lässt: Gestern war Philharmoniker Ball…