
Étienne Dupuis (Eugen Onegin). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
WIEN / Staatsoper: EUGEN ONEGIN mit drei Hausdebüts
9. Aufführung in dieser Inszenierung
14. März 2023
Von Manfred A. Schmid
Wüsste man nicht, dass der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov in seiner Heimat als Regimegegner gilt, man möchte fast meinen, in ihm den Ausstatter von Putins Empfangszimmer im Kreml vor sich zu haben. In seiner Eugen Onegin-Inszenierung, die im Oktober 2020 Premiere hatte, dominiert ein langgestreckter ovaler Tisch die von ihm entworfene Bühne. Nur dass diesmal dort nicht Vladimir Putin und Anna Baerbock einander ziemlich verständnislos gegenübersitzen und aneinander vorbeireden, sondern der überheblich-arrogante, selbstverliebte, den erfahrenen Weltmann herauskehrende Eugen Onegin und die ihn anhimmelnde blutjunge, hals über kopf verliebte Tatjana. Die etwas naive, zurückhaltende Adelige am Land hat sich in der Nacht, nach großen Zweifeln, einen glühenden Liebesbrief abgerungen und ihm zustellen lassen. Nun bekommt sie, von oben herab, eine ihr Gemüt erschütternde Lektion erteilt, die das Leben beider für immer beeinflussen wird.
Es gehört schon eine ansehnliche Portion Besessenheit dazu – aber das ist es wohl, was einen Künstler auszeichnet -, dass dieser monumentale Tisch und die dazu gehörigen Sessel in allen vier Aufzüge die allesbestimmende Bühne ausmacht. Sogar das Duell am Ende des 2. Aufzugs spielt sich bei Tcherniakov nicht auf einem freien Feld, sondern rund um den Tisch ab. Um dieses Arrangement plausibler zu machen, wird der Ablauf verändert. Es kommt zu keinem Pistolen-Duell, sondern Lenski fuchtelt erregt mit einer höchstens für die Schnepfenjagd tauglichen Flinte herum. Als ihm diese sein über Nacht zum Todfeind gewordener Freund Eugen entreißen will, löst sich ein Schuss. Lenski liegt tot auf dem Tisch. Die Welt ist ein Taschentuch, sagt ein spanisches Sprichwort. Die Welt ist ein Tisch, beharrt Dmitri Tchernikakov.

Iván Ayon Rivas (Lenski) und Ensemble.
Nicht alles in Tcherniakovs Inszenierung muss man goutieren, aber sie hat ihre unbestreitbaren Vorzüge und ist allemal besser als die öde, im ewigen Eis erstarrte Vorgängerproduktion von Falk Richter. Besonders auffallend ist die Art, wie Tcherniakov die Titelfigur auf die Bühne stellt. Sein Eugen Onegin ist ein nicht anpassungswilliger, vermutlich auch nicht anpassungsfähiger Mann, der am Rande steht und nirgends dazu gehören will. Wohl weil er sich für etwas Besseres hält. Und wenn er sich einmischt, geht er taktlos vor, spielt gewissenlos mit den Gefühlen seiner Mitmenschen und betrachte dann wieder von außen, was er angerichtet hat. Der französische Bariton Étienne Dupius, als Valentin in Faust noch in bester Erinnerung, setzt bei seinem Rollendebüt als Eugen Onegin dieses geschärfte Profil wunderbar um und zeigt, wie Onegin auf dem Land durchaus Erfolg hat. Er wird ob seines weltmännischen Auftretens bewundert und hofiert. Bis er bei seinem bösen Spiel mit seinem Freund und Nachbar Lenski und dessen Braut Olga den Bogen überspannt, die Flucht ergreift und ins Ausland geht. Höchst spannend wird es, wenn er nach jahrelanger Abwesenheit in seine russische Heimat und an den Hof seines Freundes, Fürst Gremin, zurückkehrt. Man sieht, dass er aus seiner damaligen Erfahrung wenig gelernt hat und im Grunde der Gleiche geblieben ist, ein blasierter, von sich eingenommener, widerlicher Kerl. Gleichzeitig muss er aber erfahren, dass er seinen Zauber, seine Wirkung auf die anderen eingebüßt hat. Er, der uneingeladen zu einer Abendgesellschaft kommt und daran teilnehmen will, wird von allen ignoriert und nicht wahrgenommen, so sehr er sich auch um Anschluss bemüht und sich dabei ziemlich lächerlich macht. Beim Wiedersehen mit Tatjana, inzwischen Frau des Fürsten, versucht er, von Selbstmitleid überwältigt, mit ihr ein neues Leben zu beginnen und sein existenzielles Scheitern hinter sich zu lassen. Vergeblich. Tatjana, deren Gefühle für ihn noch immer nicht erloschen sind, bleibt ihrem Gatten treu. Nun ist es Onegin, der mit einer Pistole fuchtelt und an Selbstmord denkt, aber den Mut dazu nicht aufbringt. Dupuis schont sich bei dieser Wiederbegebung nicht, weder stimmlich noch darstellerisch, sein Bariton stößt an die Grenzen des Möglichen und bricht beinah. Das erhöht aber nur die Intensität des totalen Zusammenbruchs, der dem Publikum hier vor Augen und Ohren geführt wird. Eine starke Leistung.
Eine starke Leistung erbringt auch die lyrisch Sopranistin Nicole Car, die – als Einspringerin – schon bei der Premiere dabei war. Sie hat die inneren Konflikte, mit der Tatjana zu kämpfen hat, inzwischen noch vertieft. Beeindrucken die ekstatische, dann wieder von Rückbesinnung und Zweifeln geprägte Briefszene, wo sie, auf dem Tisch tanzend und fast in Raserei fallend, ihre Schüchternheit und Scham schließlich überwindet, ihren Gefühlen freiem Lauf lässt, diese in einem Brief zu Papier bringt und dann erschöpft herniedersinkt. Als sie beim Unterschreiben von triumphalen Blechblaser und jubelnde Streicher begleitet wird, wird damit bestätigt, dass sie aus diesem Kampf mit ihren Bedenken als Siegerin über ihre Unsicherheit und Unentschlossenheit hervorgeht. Koste es, was es wolle. Und dieses momentane siegerische Gewissheit wird tatsächlich viel kosten und vor allem – mit dem vernichtenden Auftritt Onegins – gleich wieder verlöschen. Auch Car gibt in dieser Szene so gut wie alles, was sie ´darstellerisch und stimmlich aufzubieten hat. Und sie hat da viel aufzubieten: Große Oper!

Maria Barakova (Olga) und Eelna Zaremba (Filipjewna).
Es geht weiter mit tadellosen bis exzellenten Hausdebüts. Wer hat schon jemals von dem Tenor Iván Ayon Rivas gehört? Vermutlich niemand (außer dem Kollegen, der in seinen Rezensionen immer damit beginnt, zu berichten, wen er wann und wo auf der ganzen Welt schon gesehen und gehört hat). Der wie sein Landsmann Florez aus Peru stammende Sänger ist ein umwerfend agiler, höchst empfindsamer und zu überschwänglichen Gefühlsausbrüchen fähiger Lenski, singt in Tcherniakovs Inszenierung aber und auch den Triquet, hier somit ein sich in höchster Erregung als Clown gerierender Verzweifelter. Für Lenski, üblicherweise als feinsinniger, sensibler Poet gestaltet, mag diese mit Latino-Qualitäten ausgestattete Besetzung ungewohnt erscheinen. Lenskis große Arie vor dem (Fake-)Duell, in der er den verschwundenen Tage der Freundschaft nachtrauert, wird außerordentlich beklatscht. Iván Ayón Rivas erinnert in seinen eruptiven Aktionen etwas an den ewig jugendlichen Mexikaner Rolando Villazón, auch wenn es da stimmlich noch Luft nach oben gibt. (Anm. d. Redaktion: Rivas ist ein Schüler von Roberto Servile, er hat in den letzten Jahren schon einiges gemacht !!! )
Sehr zuverlässig und eindrucksvoll fallen die Hausdebüts von Elena Manistina als Gutsbesitzerwitwe Larina und von Maria Barakova als deren Tochter Olga aus. Eine fürsorgliche Kinderfrau Flilipjewna ist die Mezzosopranistin Elena Zaremba, Dan Pal Dumitrescu ein routinierter Sekundant. Im letzten Aufzug hat der russische Bass Dimitry Ivashchenko seinen souverän gestalteten Auftritt als Fürst Gremin und liefert seine große Arie makellos ab.
Bei der Premiere wurde aus unerfindlichen Gründen ein slowakischer Chor verpflichtet. Als infolge von Corona dieser bei einer weiteren Aufführung nicht anreisen konnte, musste kurzfristig Ersatz gefunden werden. Überraschenderweise wurde dieser im eigenen Haus gefunden, wo man überraschenderweise einen vorrätig hatte. Der Staatsopernchor macht seitdem seine Sache, wie zu erwarten war, ausgezeichnet. So auch diesmal. Das Orchester steht, wie schon bei der Premiere, unter der soliden Leitung von Tomás Hanus. Manchmal etwas zu laut und mit zwei verhuschten Bläsereinsätzen in der Ouvertüre, ansonsten aber tadellos.
Heftiger, überraschend bald verebbender Beifall für einen Abend mit bemerkenswerten Haus- und Rollendebüts.