Staatsoper: Ballettabend „Pathétique“ – Rückblicke und ein Abschieds-Tableau (9.4.2025)
Zum letzten Mal ist ein Programm des Wiener Staatsballetts mit der Handschrift des scheidenden Chefs Martin Schläpfer einstudiert worden. Sein Vertrag läuft ab; keine Verlängerung; der Schweizer Choreograph muss sich von Wien verabschieden. Unter dem Titel „Pathétique“ ist im Repertoire der Staatsoper nun ein fein getanzter Abend mit Rückblicken in nicht allzu ferne Vergangenheit zu erleben.
Programmpunkt Nummer eins und auch der Höhepunkt: „Divertimento Nr. 15“. Vor Jahren bereits in der Staatsoper getanzt, ist es eines dieser wunderbaren in Weiß glitzernden abstrakten Ballette im neoklassischen Stil von George Balanchine (1904 – 1983). Mit sensitiver Musikalität hat der Jahrhundert-Choreograph ein tänzerisches Feuerwerk zu dieser spritzigen Spielmusik von Wolfgang Amadeus Mozarts geformt. Stimmig bis in die kleinste Nuance.
In der Mitte des Dreiteilers scheint „Summerspace“ für das Opernpublikum vielleicht doch ein bisschen fehl am Platz zu sein. Vor X-Jahrzehnten, in der quirlenden wie bunten Zeit der amerikanischen Kunstavantgarde, ist der Tänzer und Choreograph Merce Cunningham (1919 – 2009) eine der Kultfiguren gewesen. Auch in Wien hat er mit einer kleinen Reisekompanie mit sehr persönlichem wie stets originellem freien Tanz, ausdrucksstark in seinem abrupt wechselnden Bewegungsmaterial, wiederholt seine Freunde gefunden. Jetzt im Opernhaus: Minimalmusik von Morton Feldman mit zwei zart piepsenden Klavieren und die einfache farbige Ausstattung in Richtung Pop Art von Robert Rauschenberg, damals ebenfalls eine Ikone in der US-Künstlerszene, sagen nichts konkretes aus, lassen … vielleicht, vielleicht … so etwas wie eine dezent verduftende sommerliche Atmosphäre aufkommen.
Für den Schweizer Martin Schläpfer scheint die Zeit in Wien nicht so liebevoll gewesen zu sein. Mit Tänzern wie Journalisten. Peter I. Tschaikowskis 6. Symphonie, die „Pathétique“, hat er sich in seiner in Wien gepflegten choreographischen Manier zum Abschied ausgewählt. Ebenfalls ein Rückblick, eine Rückblende auf seine gestalterische Verfahrensweise: Ein toll klingendes und anspruchsvolles großes Orchesterwerk (wie etwa Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, Brahms‘ „Deutsches Requiem“) wird einem tänzerischen Tableau unterlegt. Und dazu, stets ohne eine klare Handlung zu erzählen, wird mit gekonntem Handwerk die Tanzsprache dieser nun schon älteren Choreographen-Generation in dynamisch wechselnden Episoden repetiert. Tschaikowskis grandiose letzte Symphonie ist eines der großen Werke der Musikgeschichte, welches den Hörer in eine andere Welt trägt. Kann auch hier gelingen.
Von Qualen und Leiden spricht Tschaikowski mit berührenden sehnsuchtsvollen Melodien, und auch Schläpfer lässt in seinen episodenhaften Auftritten der Solisten oder des Corps eine tragische Note spüren. Glücksgefühle? Nur wenige, dem Allegro con grazia des zweiten Satzes folgend. Gruppen, Grüppchen oder einzelne Charaktere stürmen auf die düster gehaltene Bühne und suchen nach intensiv ausgelebten Momenten bald wieder ihren Abgang. Große Gestik der erhobenen Hände, wiederholt stark zitternde Körper, gebeugte, auf den Boden gekauerte namenlose Personen. Ohne Erfüllung? Manch elegante Figuration und dann wieder Leere. Dies alles läuft ohne eine fesselnde Handlung ab, doch die ausgelebte expressive Sprache vermag des öfteren zu überzeugen. Schläpfer versteht die dynamische Kraft der großen Wiener Kompanie – fast nur mehr international bestückt – einzusetzen. Zerrissene Menschen führt er bei seinem Rückblick auf Wien vor.
Die kommende italienische Leitung des Staatsballetts kann ein groß besetztes und nach wie vor gutes Ensemble mit feinen Solisten übernehmen. Hier jetzt keine Tänzernamen – zu viele und auch nicht so übersichtlich über die Bühne schwirrende. Und, wie an diesem Abend unter Dirigent Christoph Altstaedt, das Opernorchester versteht die Musik von Mozart wie Tschaikowski mit aller Klangschönheit zu vermitteln.
Meinhard Rüdenauer