WIEN / Schauspielhaus: Singspiel mit Liedern und Episteln von Carl Michael Bellman
11. Mai 2024
Von Manfred A. Schmid
In Gottfried von Einems 1995 erschienenen Autobiographie Ich hab‘ unendlich viel erlebt gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Meine ungeschriebenen Opern“. Darin wird u.a. auch ein Singspiel-Projekt erwähnt, das er gemeinsam mit seinem Freund Carl Zuckmayer verwirklichen wollte: „Wir einigten uns auf einen Stoff, den er schon bearbeitet hatte, der allerdings noch nicht ganz fertig war, über den schwedischen Sänger Bellman. Der hatte in der Geschichte eine künstlerische und auch eine politische Rolle gespielt, und beides ging schief.“ Aus dem geplanten Singspiel wurde nichts, was der Komponisten als „großen Fehler“ empfand, weil seiner Einschätzung nach Zuckmayers Originalfassung des Bellman, die leider nicht überliefert ist, „einfach zauberhaft“ war und eine Realisierung durchaus verdient hätte.
Da Einems Autobiographie in langen Gesprächen mit dem damals im Krankenhaus liegenden Komponisten von mir aufgezeichnet worden war, machte mich die Erwähnung dieses mir damals noch völlig unbekannten Mannes sehr neugierig. Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass Carl Michael Bellman (1740-1795) ein schwedischer Dichter und Komponist war, der als der berühmteste Liederdichter Schwedens gilt und in der schwedischen Literatur bis heute den Ruf als d e r Nationaldichter des Landes hat. Als ich nun, fast 30 Jahre später, die Ankündigung eines „Singspiels mit Liedern und Episteln“ dieses Künstlers im Schauspielhaus Wien entdeckte, war es klar, dass ich hingehen musste. Ich habe es nicht bereut und doch Einiges über und von ihm erfahren können. Vor allem fasziniert mich die Erkenntnis, dass dieser Mann aus der Barockzeit heute als Urvater der Liedermacher-Szene betrachtet und geachtet wird. Manfred Krug, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Reinhard Mey haben seine Lieder gesungen und wurden von ihnen inspiriert. Kollegen wie H.C. Artmann, Carl Zuckmayer, Peter Hacks und Hartmut Lange haben seine Gedichte und Episteln ins Deutsche übertragen oder nachgedichtet. Das Konzert sollte mir die Möglichkeit bieten, live mehr über diesen schwedischen Liedermacher der Barockzeit, über sein Leben und sein Schaffen herauszufinden.
Initiator des Abends ist Gernot Henning, der mit dem neunköpfigen Wiener Bellman Ensembles, auch bekannt als di libn layt, musiziert und spielt. Als Gastmusiker dabeí sind weiters das Duo Hannes und Movitz aus Schweden, das die Lieder und Texte Bellmanns im überlieferten Sinn wiedergibt, und der aus Deutschland angereiste „Rheinische Troubadour“ Jürgen Thelen alias Thelonius Dilldapp, der zur Drehleier und Laute singt und ebenfalls eine möglichst originalgetreue Interpretation mit barocker Spiellaune und Humor darbietet, in der auch drastische und derbe Momente enthalten sind. Bellmann, das erschließt sich aus der dargebotenen Auswahl seiner Lieder und den kurzen einleitenden Bemerkungen dazu, war wohl so was wie ein hochgebildeter Bänkelsänger, ein Bruder Leichtsinn, dem Alkohol zugetan, unangepasst und prassend, wenn er Geld hatte, und oft genug pleite, so dass er einmal vor seinen Gläubigern sogar ins Ausland flüchten musste. Ein Mann im ewigen Kampf mit seinen inneren Dämonen, der in seinen Liedern aber tiefes Empfinden für Naturschönheit offenbart, Realismus mit humoristischen und satirischen Überzeichnungen kombiniert und von überbordender Lebensfreude, aber auch düsterer Todesahnung angetrieben wird. Es ist wohl die enge Verbindung von Wort und Musik, die ihn zum Vorläufer und Vorbild für die modernen Liedermacher prädestinierte. Gerne griff Bellmann dabei auf Melodien populärer zeitgenössischer Opern und Singspiele zurück, die er an seine Bedürfnisse anpasste. Ungefähr 1.800 Lieder und Texte sind überliefert, vermutlich nur ein kleiner Teil seines gesamten Schaffens.
Die Leistung des in erster Linie als Begleitung eingesetzten Wiener Bellman Ensembles ist ausgezeichnet. Mit hörbarer Spielfreude angesichts der volkstümlichen Melodien und der stimmigen Arrangements gehen sie ans Werk. Auch die Leistungen der oben erwähnten Solisten, die auch im Duett, Terzett und Quartett auftreten, sind – für sich genommen – durchaus kompetent. Woran es mangelt, ist die Koordination untereinander wie auch im Zusammenspiel mit dem Ensemble. Da wirkt vieles leider allzu improvisiert bis chaotisch, was schade ist. Offenbar war zu wenig Probenzeit einkalkuliert worden. Auch das angekündigte „Singspiel“ bleibt dieser Abend schuldig. Die einleitenden Moderationen sind nicht dazu angetan, einen biographischen und künstlerischen Bogen zu spannen, sondern bleiben rein episodisch und unpräzis. So bleibt es bei einer Annäherung an das Schaffen dieses „Nordischen Troubadours“, der zum Urvater der Liedermacher unserer Tage werden sollte.
Die beim Konzert stark vertretene Swedish Community war offensichtlich dankbar, überhaupt wieder einmal Lieder des verehrten „Troubadour des Nordens“ live erleben zu können, und hatte kein Problem damit, die etwas holprigen Abläufe richtig einordnen zu können. Für Nichtkenner wie den Rezensenten war es immerhin ein erstes Hineinhören in eine noch nicht so vertraute Welt. Das bis heute wirkmächtige Schaffen von Carl Michael Bellman verdient es, weiter erkundet zu werden. Anfangen könnte man etwa mit seinen legendären „Episteln“, für die das Neue Testament die Grundlage liefert. Angelehnt an den Apostel Paulus schreibt da der Trunkenbold Jean Fredman, hinter dem wohl der heilige Trinker Bellman stecken dürfte, Briefe an die hartnäckigen Trinker in den Tavernen von Stockholm.