
Fotos: Bettina Frenzel
WIEN / Scala:
LIEBELEI von Arthur Schnitzler
Premiere: 12. November 2022,
besucht wurde die zweite Vorstellung am 15. November 2022
Wie lange ist es her, dass ein Wiener Theater schlicht und einfach Vertrauen in Arthur Schnitzler hatte? Grauenvolle Josefstädter Aufführungen wie „Der einsame Weg“ sitzen als schwärender Stachel im Gedächtnis. Zu Beginn der Spielzeit hat Barbara Frey im Akademietheater am Beispiel des „Weiten Landes“ gezeigt, wie man einen Autor mit all seinen Qualitäten schlicht und einfach vernichtet. Regietheater hat schrecklich an seinen Werken herumgewütet, mit dem Effekt, dass Schnitzler – früher einer der meist gespielten Autoren – faktisch aus den Spielplänen verschwunden ist.
Und nun setzt die Scala „Liebelei“ an. Wir leben in einer Welt, in der Elfjährige zu ihrem Drogendealer in die Wohnung gehen (und vergewaltigt werden). 1895 bei der Uraufführung von „Liebelei“ im Burgtheater musste man angesichts der Tatsache, dass zwei junge Mädchen zu einem jungen Herren in die Wohnung kommen, einen Skandal befürchten. Knappe 127 Jahre, und sowohl die sozialen wie die emotionalen Situationen von damals sind weit von uns entfernt. Doch Regisseur Rüdiger Hentzschel glaubt daran, dass in Geschichten von gestern ein ewiger Kern ruht, und dass man sie erzählen kann, so wie sie sind.
Er leistet sich dabei durch die Kostüme von Anna Pollack eine Zeitverschiebung, die nicht ganz logisch scheint – die kurzen Kleider der Frauen verweisen etwa auf die Zwanziger Jahre. Aber da gab es keine Dragoner mehr und kein k.u.k. Militär, und die Selbstverständlichkeit, mit der man zu Kaisers Zeiten Rivalen und Gegner per Duell ausschalten konnte, war auch vorbei – ein wesentliches Element des Stücks. Aber da es (mit geringfügigen sprachlichen Veränderungen und durchaus gut gestrichen) dennoch das Stück, wie es ist, zu sehen gibt, beweist die Scala etwas, das es kaum noch gibt: Glauben an Schnitzler.
„Liebelei“ ist in zweiter Linie eine soziale Analyse. Die beiden jungen Männer mit ihren Innenstadt-Wohnungen, die von wohlhabenden Eltern mit Landgütern bezahlt werden, bewegen sich zwischen den Welten – in ihrer eleganten (wo es dann auch zu Seitensprüngen mit verheirateten Frauen der Gesellschaft kommt) und in der Vorstadt, wo die Mädeln für ein Abenteuer billig zu haben sind. Und solange diese „süßen Mädeln“ wie Mizi Schlager diese Regeln kennen und akzeptieren – gegenseitiges Amüsement, ein paar Geschenke, keine emotionale Bindung – , ist alles in Ordnung. Dabei hat man die Situation damals kaum als so ausbeuterisch und demütigend empfunden, wie wir es heute tun.
In erster Linie geht es in „Liebelei“ um verschiedene Auffassungen von „Liebe“. Der junge Lebemann Fritz mag gerührt sein von den Gefühlen, die ein naives Vorstadtgeschöpf wie Christine ihm entgegen bringt, aber umgehen kann und will er damit nicht. Christine aber hängt ihr ganzes Herz an diesen Fritz, und die Erkenntnis, für ihn faktisch nichts gewesen zu sein, bringt sie um. Eine Tragödie. Eine Tragödie von gestern allerdings, da wir heute solche Gefühlsexzesse bestenfalls als pathologisch betrachten.
Durchaus mutig also, das Stück einfach zu spielen wie es ist und zu hoffen, dass sich die Geschichte auch in unseren grob gestrickten Zeiten noch so selbstverständlich erzählt wie einst. Und sie tut es, vielleicht nicht gänzlich im ersten Akt (wo der Regisseur sich als sein eigener Bühnenbildner einen Tisch in der Wohnung von Fritz hätte leisten können, damit das Quartett nicht so umständlich und unpraktisch am Fußboden essen muss): Dass es hier „sexier“ zugeht, als Schnitzler es zu seiner Zeit hätte auf die Bühne bringen dürfen, schadet nicht. Aber dann, wenn man in der Vorstadt landet (die Drehbühne bietet die Arme-Leute-Wohnung unter dem Dach auf zwei Ebenen und sehr atmosphärisch), da stimmt dann alles. Die Menschen, das Milieu, die Geschichte.
Der Abend bezieht nicht zuletzt seine Stärke aus der Darstellung der Christine durch Soi Schüssler. Große echte und wahre Gefühle mit solcher Schlichtheit, solcher unpathetischer Einfachheit zu vermitteln, ist ein rares Kunststück. Gleich nach ihr rangiert Thomas Kamper als ihr Vater, stets als „der alte Weiring“ bezeichnet, der hier nicht so alt, aber sehr vital, sehr vernünftig und sehr menschlich wirkt. Schnitzler legt ihm die Überzeugung über das Lebensrecht von Menschen auf Glück jenseits der bürgerlichen Restriktionen in den Mund.
Gutes Niveau halten alle anderen: Jakob Oberschlick bekommt den Gefühlsmix von Fritz zwischen Liebelei und Todesangst recht gut hin, überzeugend wandelt sich Sebastian von Malfèr als Theodor von der Oberflächlichkeit des Lebemanns zur echten Erschütterung angesichts des Verlusts des Freundes. Lena Antonia Birke wirbelt als Schlager-Mizi nicht ganz präzise herum, während Monica Anna Cammerlander die Frau Binder zu einer echten Vorstadt-Studie ausbaut. Regisseur Rüdiger Hentzschel hat sich selbst nicht besonders gut behandelt, der Auftritt des beleidigten Gatten könnte etwas mehr Nachdruck haben.
Das Publikum ließ sich auf die Geschichte, wie sie ist, voll ein und applaudierte heftig. Es wäre an der Zeit, Schnitzler zu wagen, ohne zerstörerische Regie-Intentionen darüber zu legen und damit die Originale zu ruinieren.
Renate Wagner