Fotos: Bettina Frenzel
WIEN / Scala:
LEONCE UND LENA von Georg Büchner
Premiere: 20. September 2025
Als wär’s ein Stück von heute
Georg Büchner (1813-1837) war eines der wahren Genies deutscher Literatur. Nicht auszudenken, was er noch hätte leisten können, wäre er nicht 23jährig (!) an Typhus gestorben. Immerhin hat er drei große Dramen hinterlassen – „Dantons Tod“, das Psychogramm der Französischen Revolution, „Woyzeck“, die Pathologie eines chancenlosen Underdogs, der von der Gesellschaft in Mord und Tod getrieben wird, und – „Leonce und Lena“.
Es ist dies im Grunde am schwierigsten zu realisierende Werk, „nur“ ein Lustspiel, scheinbar romantische Ironie, aber ein solches Konzentrat an Jugendpsychologie und politischer Satire, an Konfrontation von Lebenskonzepten und nebenbei ein scharfer Blick auf den damaligen Umgang mit „Untertanen“ (Büchner musste als Revolutionär aus seiner hessischen Heimat fliehen und starb in Zürich), dass der Reichtum des an sich schmal wirkenden Werks kaum auszuschöpfen ist.
Büchner schrieb das erst Jahrzehnte nach seinem Tod aufgeführte Werk 1836, im Jahr bevor er starb. Wenn Zeitgenosse Grabbe ein knappes Jahrzehnt davor nicht schon „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ verfasst hätte – der Titel würde perfekt zu „Leonce und Lena“ passen…
In der Scala begibt sich der Glücksfall, dass das Paar Vanja & Peter Fuchs (sie zusätzlich für die geschickte Dramaturgie, er zusätzlich für das ebenso geschickte Bühnenbild zuständig) es geschafft haben, das Stück ins Heute zu holen, ohne ihm etwas von seiner Substanz abzuhandeln. Dass zwei Königreiche Popo und Pipi heißen, ist nicht Kindertheater, sondern umreißt auch für uns die Enge dieser Welten. Das bei Büchner dort noch ausgearbeitete Hofpersonal versinkt hier in einer maskentragenden, anonymen Schar von Höflingen, die durchaus etwas Unheimliches haben. König Peter, töricht und aufgeplustert zugleich, steht für den Politiker schlechthin – und mag nicht nur für deutsche Kleinstädte von einst, sondern auch für ungeeignetes Polit-Personal von heute stehen…
Aber es geht ja um Leonce. Seine Studie des reichen jungen Schnösel, der nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, dies aber durchaus erkennt und teilweise atemberaubend formuliert, gilt auch für jene reiche heutige Jugend, die zwar Verstand hat, aber sonst über keine sozialen Eigenschaften (beispielsweise Pflichtgefühl oder dergleichen) verfügt. Dass er später durch Liebe von seinem Nihilismus „geheilt“ wird – ja, es war die Zeit der Romantik. Und wenn man Frauenzeitschriften glauben darf, gibt es Liebe ja noch immer.
Weniger ausgefeilt ist Prinzessin Lena, die mit Leonce gemeinsam hat, dass sie sich nicht blind verheiraten lassen will. Wenn sowohl Leonce wie Lena vor der Zwangsehe fliehend in Richtung Italien aufbrechen, hat jeder von ihnen einen höchst bodenständigen Gefährten zur Seite. Valerio sagt Leonce Wahrheiten ins Gesicht, die dieser sich gefallen lässt, die Gouvernante zügelt das tobende Prinzesschen. Wenn das Happyend über den Trick klappt, dass beide sich als „Automaten“ ausgeben (das ist noch bis „Hoffmanns Erzählungen“ im 19. Jahrhundert für die Bevölkerung faszinierend geblieben), so sorgt Büchner aus Valerios Mund für einen wahrhaft anarchischen Schluß: Nein, bürgerlich will man nicht werden, und zu Tode arbeiten solle sich auch niemand…
Die Kostüme, grotesk zwischen gestern und heute (Sigrid Dreger), ganz reichlich und geradezu aggressiv stimmig die italienische Musik (Fritz Rainer), ein paar heutige Details (es wird nicht nur getrunken, sondern auch gekirrt), und der Abend enthält ein vertrautes Flair, als erzählte ein Mann von heute diese Geschichte.
Dass das im übrigen so prächtig funktioniert, liegt auch an einem Großteil der Darsteller: Adrian Stowasser als Leonce ist nicht nur ein brillanter Sprecher, er macht auch klar, dass er nicht Text aufsagt, sondern versteht und meint, was er spricht. Auf gleicher technischer und intellektueller Höhe assistiert ihm Thomas Marchart als Schlitzohr Valerio. Köstlich ist Christoph Prückner als dümmlicher König Peter, einer jener dummen Menschen, die sich für so gescheit erachten…
Nicht ganz mithalten kann die Lena der Viktoria Hillisch mit ihrem Leonce, da bräuchte es mehr sprachliche Präzision. Als Gouvernante weiß Christina Saginth, was zu tun ist. Dass Anaïs Marie Golder nicht sonderlich zur Geltung kommt, liegt an Büchner, der hat Rosetta nur die Aufgabe zugeteilt, sich von einem gelangweilten Prinzen wegschicken zu lassen.
Aber sie darf sich zu den vier Herren (Marius Lackenbucher, Florian Lebek, Philipp Schmidsbergerund David Stöckl) gesellen, die alle Nebenrollen übernehmen, die maskierten Höflinge, die strohdummen Soldaten, das ironisch funktionierende Volk.
Ein hoch amüsiertes Publikum wollte gar nicht aufhören, allen Beteiligten Beifall zu klatschen.
Renate Wagner