Fotos: Scala / Bettina Frenzel
WIEN / Scala:
HÖLLENANGST von Johann Nestroy
Premiere: 10. Jänner 2020
Der durchaus gequälte Wiener Theaterbesucher mag dazu neigen, über die verloren gegangene Kunst der Nestroy-Interpretation (der Schnitzler-Interpretation, der Tschechow-Interpretationen… ad infinitum) zu klagen. Und dann leuchtet plötzlich ein Licht in der Finsternis. Wie so oft wird es in der Scala entzündet, jenem Theater von Bruno Max auf der Wiedner Hauptstraße, wo Stücke zwar grundsätzlich inszeniert, aber nie ruiniert werden. Nicht einmal beschädigt, Und so wird auch Nestroys „Höllenangst“ zu einem infernalischen Spaß – ganz im Sinne des Erfinders.
Geschrieben nach der Revolution von 1848, war das Stück erst einmal gar kein Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es „wieder entdeckt“, auf die wienerischste Art und Weise – dank der plötzlich entdeckten „Traumrollen“, die Hans Moser und Hans Putz 1962 im Theater in der Josefstadt als Vater und Sohn Pfrim auf die Bühne stellten, den Schuster, der nicht arbeitet, und den gewissermaßen arbeitslosen Sohn: Wer je erlebt hat (glücklicherweise auf DVD nachzuprüfen), wie die beiden nach Rom pilgern, wird es nie vergessen… Und dann gab es dieses „Traumpaar“ noch reichlich auf Wiener Bühnen, sie hießen Propst und Petters (Volkstheater), Muliar und Morak (Burgtheater), Schweiger und Meyer (Reichenau), Schenk und Hackl (Josefstadt), Schwab und Ofczarek (das war Kusej, noch bevor er Direktor am Burgtheater war).
Sich mit dem Stück richtig abzugeben, ist schwer, denn selten ist auch bei Nestroy, der sich dramaturgisch nur in Ausnahmefällen den Kopf zerbrach, eine so konfuse, alberne Handlung zu finden. Was in der Habsburger-Monarchie, die ihren Metternich gerade abgeschüttelt hatte, dennoch störte, nämlich der in damaligen Augen leichtfertige Umgang mit der Religion, interessiert heute kaum mehr. Was also bleibt?
Regisseur Bruno Max weiß es in seiner Scala-Aufführung ganz genau: Ein Stück über Proletarier und ihr wunderbar-vollmundiges Aufbegehren. Nun sind weder Vater noch Sohn Pfrim gewissermaßen „Geistesblitze“, es ist ihre Vitalität und Frechheit, die sie aus dem Opfer-Dasein erlöst – aber auch in die alberne Geschichte stürzt, dass Sohn Wendelin meint, einen Teufelspakt geschlossen zu haben. Und der jetzt (lesen und schreiben kann er ja, vom Doktor Faust hat er auch schon gehört), da er seine unsterbliche Seele verloren meint, vom Leben etwas haben will… Und der versoffene Papa auch.
Das wird in der Aufführung der Scala schreiend komisch, wenngleich Bruno Max auch eine Rahmenhandlung dazu erfunden hat, die die Dinge deutlich macht. Da sitzen sie nämlich alle wie am Fließband in einer Werkstatt, machen Schuhe und räsonieren über ihr Schicksal. Vor der Handlung und auch nach dem Happyend: Sie sollen nicht meinen, die armen Leute, dass es für sie je wirklich gut ausgehen kann… Das ist eine intelligente und stilsichere Art der Verdeutlichung einer Situation, die Max (in einem überaus geschickten Bühnenbild, bei dem Marcus Ganser mitwirkte, in ebenso geschickt stilisierten Kostümen von Anna Pollack) gar nicht ins Biedermeier versetzt. Nicht einmal in den Vormärz. Und auch nicht (von einer kleinen Pointe abgesehen) zwanghaft ins Heute. Das spielt im Nestroy-Land, und das ist eine wunderbare Theaterwelt für sich.
Die Handlung ist, wie gesagt, gequirlter Blödsinn, und der Regisseur nimmt sie als solche nicht eine Minute ernst. Da wird, teilweise auch in überzogener Slapstick-Manier, ganz einfach parodiert, was da abläuft. Die Figuren jedoch behalten ihre Substanz – sie wirbeln zwar künstlich herum, stimmen aber in sich. Ein bemerkenswerter Balanceakt.
Der Wendelin des Philipp Stix ist ein Prachtbursche, ein Kraftlackl, ein ehrlicher Empörer mit Revoluzzer-Seele, exakt und beschwingt zugleich, von Wünschen und Forderungen gelenkt, von Ängsten und Nöten getrieben. Und er darf auch – wann war das in Wien zuletzt der Fall? – zu normaler Musik (danke Frizz Fischer) seine Couplets singen. Und der Regisseur erspart sich billige Seitenhiebe auf das tägliche Geschehen. Nur einmal… aber davon später.
Und natürlich ist auch der alte Pfrim des Bernie Feit eine Prachtleistung: dauerbesoffen und entsprechend laut, der Alptraum eines Ehemannes und die Seele von einem Vater. Säufer gelingen Nestroy (man denke an den Knieriem) einfach besonders gut… und gute Schauspieler danken es ihm.
Dritter im Bunde ist eine zappelnde Respektsperson, die ihren Rang ablegt, wenn er zum Liebenden mutiert: Matthias Tuzar als Thurming ist ein Virtuose der Körpersprache, übertreibt schamlos, wenn er den „Teufel“ spielt, für den Wendelin ihn hält, und wird bei der Hetzjagd, die der Regisseur ihm auferlegt, nicht einmal atemlos.
Drei Damen zeigen, dass Nestroy nicht so schlechte Frauenrollen schrieb, wie immer wieder behauptet wird, besonders ein Dienstbote wie Rosalie – herrlich: Johanna Rehm – steckt doch alle Männer souverän in die Tasche, Magdalena Hammer als Komtesse, die von dem bösen Vormund ausgebeutet und weggesperrt werden soll, wehrt sich wenigstens kräftig gegen ihr Schicksal, und Sibylle Kos als Pfrim-Gattin hat sich mit diesem gänzlich unlarmoyant abgefunden…
Mit Leopold Selinger und Georg Kusztrich als der böse und der gute Onkel der Komtesse sind zwei der besten Schauspieler des Hauses aufgeboten und agieren entsprechend, im übrigen gibt es eine Menge „Personal“, die sich ergötzlich, lautstark und komisch in mehreren Rollen umtun (Michael Werner, Leonhard Srajer, Philipp Schmidsberger) – und schließlich taucht da noch ein Staatssekretär auf, österreichisches Beamtentum der schlimmsten Sorte, und dass es Peter Fuchs schafft, von der ersten Sekunde an unverwechselbar als Herbert Kickl zu erscheinen – ja, das ist eine Pointe, die Nestroy, der immer so nahe an der Alltagsrealität war, zweifellos gefallen hätte. Und die ganze Aufführung auch. So wie dem Publikum, das begeisterten Beifall spendete.
Renate Wagner