WIEN / Scala:
DER GUTE MENSCH VON SEZUAN von Bertolt Brecht
Premiere: 16. Dezember 2017
Es gab Zeiten, da war Bert Brecht eine Dauer-Erregung, Dann, nach dem Brecht-Boykott, spielte man ihn landauf, landab, er war eine ganz wichtige Repertoire-Stütze der deutschen Theater, mit der Courage, dem Puntila, der Dreigroschenoper, dem Kreidekreis, der Johanna der Schlachthöfe, dem Arturo Ui, mit Furcht und Elend des Dritten Reichs, dem Dickicht der Städte, dem Galilei u.a…. Nach und nach spielte man ihn weniger und weniger… und heute wird man sich schwer tun, auf Brecht-Aufführungen in Wien zu stoßen. Dabei ist ein Werk wie „Der gute Mensch von Sezuan“ sozusagen das Stück der Stunde – wie die Aufführung in der Scala beweist, auch wenn die Regie einige konzeptionelle Fehlentscheidungen trifft.
Was zeichnet Brecht am Schicksal der armen Shen Te in einem fiktionalen China als Lehrstück reinsten Wassers nach? Dass da einer etwas hat und sofort von Schmarotzern überfallen wird, die ihn kahlfressen – die da kommen, nicht klein und bescheiden, sondern fordernd, als wäre es die Pflicht der Besitzenden, sie bedingungslos zu erhalten. Ihnen kann man überhaupt nur mit scharfen Tönen halbwegs Paroli bieten, dann sie ziehen einigermaßen den Schwanz ein (ihren Anteil an dem, was sie nicht geleistet haben, verlangen sie dennoch in alter Unverfrorenheit). Ausbeutung auch auf anderer Ebene, nämlich der emotionalen, wenn der Mann die Gefühlsmasche fährt, um an das Geld der Frau zu kommen. Eine hoffnungslose Situation, von Brecht als solche nachgezeichnet, die nur mit dem „starken Mann“ zu begradigen ist.
Bekanntlich verwandelt sich die herzensgute, seelenvolle, butterweiche Shen Te aus Selbstschutz in ihren „bösen Vetter“ Shui Ta, der zur Empörung aller erklärt, dass es nichts mehr geschenkt gibt, sondern dass man für sein Auskommen auch zu arbeiten hat. Selbstverständlich dreht Brecht, der immer bekennende Kommunist (der privat alles andere war als das…), das Rad bis zur gnadenlosen kapitalistischen Ausbeutung der Hilflosen, die (auch das ist typisch) das laute Geschrei erheben, denen aber nichts anderes übrig bleibt, als sich zu fügen.
Über diese Gesellschaft stellt Brecht „Götter“, ihrerseits im Grunde völlig desinteressiert, nicht willens, hier wirklich einzugreifen, leere Sprüche klopfend und dem Elend den Rücken kehrend – Politiker, wie sie leiben und leben.
Wollte man jemanden erklären, was ein „dialektisches Stück“ ist, ein Lehrstück zumal, man könnte kein besseres Beispiel finden als den „Guten Menschen von Sezuan“. Es ist die absolut unsentimentale, von allen Seiten her betrachtete Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse – aber es ist nicht „realistisch“ gemeint.
Und diesem Irrtum verfiel Bruno Max in seiner Inszenierung des Stücks in der Scala, indem er meinte, er müsse alles „heutig“ machen. Mit „Göttern“, die im Glitzerlook von Fernseh-Juroren herbeischweben, Selfies machen und wieder gehen. Mit einem quasi lustigen Lumpenproletariat, das mit ebendiesen Lumpen „bunt“ und theatergerecht gemacht wird, mehr komödiantisch als wirklich gefährlich. Mit einer Musik, die zwar, wie man im Programmheft liest, von Paul Dessau ist (höchstens zum kleinen Teil…), aber nicht danach klingt. Keine Frage – will man die Brecht’sche Fragestellung bedienen, kommt man ihm am besten puristisch entgegen. Kulinarisch wie hier, gewissermaßen mit Musik aus dem Kofferradio und Tanz, funktioniert es nicht so richtig.
Die Schlussworte des Stücks sind ja nicht zuletzt dadurch (ganz außerhalb des „Guten Menschen“) bekannt geworden und geblieben, weil Reich-Ranicki jedes „Literarische Quartett“ damit schloß: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen. Aber Shen Tes Epilog geht noch weiter, er besteht in der Aufforderung an das Publikum, das vorgelegte Problem für sich selbst zu lösen, weil es die Götter nicht können, der Dichter auch nicht, und es folglich der Einzelne tun muss:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!
Keine Frage, in einer Welt, wo ein Großteil derer, die haben, nicht bereit sind, es mit denen, die nichts haben, zu teilen (und das ist wahrlich kein alleinig österreichisches, sondern ein weltweites Phänomen), kann man angesichts der von Brecht so akkurat aufgerollten Problematik einfach nur wieder einmal darüber nachdenken und seine eigenen, ganz privaten Konsequenzen ziehen. Aber dazu sollte das Stück schärfer auf den gedanklichen Inhalt und weniger auf die bunt-modernistische Fassade hin gezeigt werden…
Immerhin hat die Scala, wie immer, ein vorzügliches Ensemble, wobei quer durch die Geschlechter gespielt wird. Das heißt, dass Johanna Elisabeth Rehm zwar eine entzückende Shen Te (quasi als filigranes China Girl) ist, aber doch weit stärker wirkt als der böse Vetter im Männergewand, da wird auch ihre Sprache klarer, ihr Wesen bestens umrissen. Regis Mainka, ein kräftiges Stück Mann, gibt dem Flieger Sun von Anfang an die berechnende Attitüde, so dass die Wandlung zum Sklaventreiber in der Fabrik nicht im geringsten verwundert. Als Wasserverkäufer Wang ist Bernie Feit der arme „kleine Mann“ schlechthin, der stets den kürzeren ziehen wird.
Prachtvoll wie immer Hermann J. Kogler, ob er einen wirklich fiesen Kapitalisten spielt, einen arroganten Gott oder eine penetrante Schmarotzerin. Auch in Frauenkleidern total überzeugend: Hans Steunzer als die reiche Frau Mi Tsü mit voller Hochmuts-Attitüde. Eine berechnende Alltagsfrau, die immer ihren Weg machen und ihren Vorteil finden wird, ist Claudia Marold als die Nachbarin Shin. Der Rest fügt sich perfekt ins Bild.
Kurz, sehr gut gespielt wie immer in der Scala. Nur Brecht nicht ganz gerecht geworden – vor allem dem Anspruch nicht, den das Stück an unser Hier und Jetzt stellt. Da geht es nämlich nicht um Selfies und Fernsehmoderatoren, die sind Nebensache… Viel Beifall.
Renate Wagner