WIEN / Parlament / Historischer Sitzungssaal:
SPIEGELGRUND. Eine Oper von Peter Androsch
Uraufführung anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages.
Produktion: Anton Bruckner Privatuniversität des Landes Oberösterreich
25. Jänner 2013
Man kann sich nicht nur eine schöne, glanz- und ehrenvolle Vergangenheit zurecht biegen, man muss sich auch dem eigenen Horror stellen, stellte Nationalrats-Präsidentin Barbara Prammer in ihren Einleitungworten fest. Und so kam es im Historischen Sitzungssaal des Österreichischen Parlaments anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages zu einer Produktion, bei der Oberösterreich federführend war. „Spiegelgrund“ stammt von dem Komponisten Peter Androsch (* 1963 in Wels), der sich dabei auf Texte stützte, die Silke Dörner und Bernhard Doppler zusammen gestellt haben, wobei sie auch (auf Griechisch) den Historiker Plutarch als antiken „Zeugen“ ins Spiel bringen. Denn er berichtet, dass die Kindermorde, die während der nationalsozialistischen Ära in der Wiener „Kinderfachabteilung Spiegelgrund“ stattfanden, grauenvolle Tradition haben – schon die Spartaner fanden, dass man alles Schwache und Kränkliche von Staats wegen ausrotten sollte… Es führte ein gerader Weg der Menschheitsgeschichte zur Euthanasie.
„Spiegelgrund“ stellt kein Einzelschicksal in den Mittelpunkt, hier wird das große Ganze gesehen. Ein Sprecher (Karl M. Sibelius), ein Baß (Robert Holzer), zwei Sopranistinnen (Katerina Beranova, Alexandra Diesterhöft als Kinderstimme) geben in dieser einstündigen Oper, die weit eher ein Oratorium ist, den Opfern eine Stimme (wobei das Kinderlied „Kommt ein Vogerl geflogen“ erschüttend für die Welt der so brutal Getöteten steht), aber auch den Tätern – und der Dokumentation des Geschehenen. Material über den „Spiegelgrund“ wird vom Sprecher knapp und klar hingestellt – 789 Kinder hat man für medizinische Experimente „verwendet“, hat ihre Überreste und Leichenteile noch Jahrzehnte über die Nazi-Herrschaft hinaus als „Präparate“ verwahrt und erst 2002 beigesetzt… „Geben Sie einer Mutter ihr Kind zurück“, bat eine verzweifelte Frau in einem vorgelesenen Brief eine Ärztin vom „Spiegelgrund“ – zweifellos vergeblich. Der Baß artikuliert die Gesetze der Spartaner. Schmerzliche Impressionen kindlicher Leiden liegen in Frauenkehlen.
So eindrucksvoll die Sänger wirkten, so kam doch der stärkste Eindruck des Abends vom orchestralen Teil der Musik von Peter Androsch, die Dirigent Thomas Kerbl mit dem „Ensemble 09“ in Kammermusik-Besetzung ohne schweres Blech (Streicher, Flöte, Cembalo, eindrucksvoll eingesetztes Schlagzeug) großartig realisierte (wobei der historische Sitzungssaal des Parlaments, im Halbrund eines römischen Theaters gestaltet, exzellente Akustik offenbarte). Obwohl grundsätzlich tonal gehalten, kann diese Musik so schmerzlich in die Seele schneiden, wie es dem Thema entspricht, und intensivste Gefühle der Trauer evozieren. Der Stimmungsgehalt ist bedeutend und hat wohl auch mit der persönlichen Betroffenheit des Komponisten durch das Thema zu tun (sein Großvater wurde von den Nazis verschleppt und ermordet).
Im Parlament konnten sich die Interpreten – das Orchester war in der Mitte vorgelagert – nur zwischen zwei Sitzreihen bewegen, aber es handelt sich ja, wie gesagt, nicht wirklich um eine „Oper“, die man inszenieren könnte. Mit dem Sprecher vorne in der Mitte, hinter ihm (im Ärztemantel) der Baß, der die antiken Tötungs-Gesetze verkündet (die Hitler so billigte), rechts die Stimme des Kinderliedes, links quasi die Stimme der Erinnerung, hat Regisseur Alexander Hauer das Geschehen übersichtlich positioniert. Vielleicht ging das Dargebotene auch deshalb dermaßen unter die Haut, weil es durch keinerlei Mätzchen verbilligt wurde.
Das Publikum im übervollen Saal spendete sicherlich erschütterten, aber nichtsdestoweniger stürmischen Beifall.
Renate Wagner