Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN / MusikTheater an der Wien: DER IDIOT

der idiot 2im zug vuiele ~1
Fotos: © Monika Rittershaus

WIEN / MusikTheater an der Wien im MuseumsQuartier: 
DER IDIOT von Mieczysław Weinberg
Österreichische Erstaufführung
Premiere: 28. April 2023 

Es stimmt tatsächlich, wie das Theater an der Wien behauptet: Es ist  unbegreiflich, dass Mieczysław Weinberg (1919-1996) dermaßen vergessen werden konnte. Hätten die Bregenzer Festspiele nicht 2010 seine Oper „Die Passagierin“ wieder entdeckt (2016 dann auch im Theater an der Wien zu sehen), man kennte den Namen dieses russischen Komponisten mit polnisch-jüdischen Wurzeln überhaupt nicht. Obwohl er packende, fesselnde Musik geschrieben hat (zumindest teilweise), wie nun die Österreichische Erstaufführung seiner Oper „Der Idiot“ im Theater-an-der-Wien-Ersatzquartier im MuseeumsQuartier erwies. Schwäche des Abends: seine Länge. Stärken: viele.

Nun ist es nicht ganz einfach, eines von Dostojewskis Hauptwerken in ein Libretto einzudampfen. Es geht in „Der Idiot“ (erschienen 1868) ja nicht nur um die überfrachtete, wild umherspringende Handlung rund um den Fürsten Myschkin, sondern auch um breite ideologische und politische Überlegungen des Autors. Die tatsächliche Geschichte des „Idioten“, der ein naiver Gutmensch ist, wie er eigentlich in dieser Welt nicht überleben kann, ist voll von wilden Gestalten und verqueren Gefühlsebenen, wobei man auch im Roman vieles (vor allem das erratische Verhalten der Frauen) nicht wirklich nachvollziehen kann.

Nun ist das Libretto von Alexander Medwedew nicht eben ökonomisch vorgegangen, wenn er auch die Handlung richtig auf Myschkin im Spannungsfeld zwischen zwei Frauen, der Prostituierten Nastassja umd der Großbürgertochter Aglaja, zuspitzt, während die anderen Männerfiguren eher am Rande bleiben.

der idiot die zwei frauen vv~1

Trotzdem ist da vieles noch viel zu lang, vor allem das Ende – nach der großen Auseinandersetzung Nastassja / Aglaja (nicht ganz Ortrud und Elsa, aber auch nicht schlecht) müsste es zu Ende gehen, aber es zieht sich, bis Myschkin, der Mann, der für alle das Beste will, angesichts der ermordeten Nastassja endlich hoffnungslos verzweifelt ist. Da  hätte man ihm gerne das Dostojewski-Ende gewünscht, dass er wieder in das Sanatorium in der Schweiz zurückkehren kann.

Mit der Reise aus dem Sanatorium, wo er für seine Gemütskrankheit und Epilepsie behandelt wurde, zurück nach St. Petersburg beginnt der Roman und auch die Oper, hier lernt er Rogoschin kennen, der ihn bei Nastassja einführt, in die er (Rogoschin  nämlich) verzweifelt verliebt ist, wobei er nicht der Einzige ist, der um ihre Gunst wirbt. Nastassja ist ein ebenso extremer Charakter wie Aglaia, die Tochter von General Jepantschin, und Myschkin, der jedermann nur Gutes tun will (und Gutes von allen glaubt), schwankt nun zwischen Gruppen von Menschen, die Dostojewski als ebenso negativ wie in ihrem Verhalten zerstörerisch gezeichnet hat. Nicht alles, was an diesem Abend passiert, kann man (zumal er Russisch gesungen wird, man also ziemlich an den Übertiteln hängt) im Detail nachvollziehen, aber die Geschichte des „reinen Toren“ in einer unreinen Welt packt.

Das geht auch auf das Konto des russischen Regisseurs Vasily Barkhatov, der wusste, dass man eine Oper, die das Publikum nicht kennt, nicht „interpretieren“ darf (wie es etwa sein Landsmann beim Staatsopern-„Parsifal“ tat), sondern möglichst verständlich erzählen muss. Das gelingt – mit einsichtigen symbolischen Elementen – auch dank des Bühnenbilds von Christian Schmidt, das fast ein Geniestreich ist und mit Hilfe der Lichtregie (Alexander Sivaev) für die Stimmung des Abends sorgt.

Das Zugabteil, in dem Myschkin zu Beginn Rogoschin kennen lernt, bleibt immer auf der (Dreh)-Bühne, verwandelt sich in den Hintergrund, wenn vorne ein paar Möbel aufgestellt werden, ist aber auch Schauplatz für einzelne Episoden. Zudem dienen die Fenster als „Bildschirme“ für Videos (Christian Borchers), die man noch nie so sinnvoll eingesetzt und so wenig störend empfunden hat wie hier. Nicht alles wird am Geschehen völlig klar, aber darauf kommt es nicht an – Dichte und Zusammenhalt des Abends stimmen.

Dabei hat Regisseur Vasily Barkhatov die Geschichte ganz aus der Vergangenheit und dem Plüsch der Zarenzeit heraus geholt, die Handlung begibt sich heute (Kostüme: Stefanie Seitz), ohne dass man das Gefühl hätte, hier ginge es ja doch eigentlich um Vergangenes. Blinde, herzensgute Idealisten inmitten einer bösen Welt – das kann schließlich immer wieder einmal vorkommen?

Mieczysław Weinberg hat dem schmerzlichen Werk schmerzliche Musik gegeben – wo das Libretto zu lange und geschwätzig wird, hängt sie gelegentlich durch, aber sobald das Geschehen Dramatik aufnimmt, ist die Musik mit hämmernder Intensität dabei (etwa in der Szene, wo Nastassja zum Entsetzen der Anwesenden das Bündel Geld verbrennt, mit dem man sie kaufen wollte). Man hätte sich mehr Chorszenen gewünscht, so dramatisch fallen die wenigen Auftritte aus. Und am stärksten wird die Musik in den leider nicht so häufigen Stellen, wo das Orchester allein sprechen darf – da ist Schostakowitsch, der ein aktiver Förderer von Weinberg war, sehr nahe. Dirigent Thomas Sanderling hat mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien für größtmögliche Spannung gesorgt, und der wie immer hoch zu schätzende Arnold Schoenberg Chor war leider unterfordert.

der idiot er sitzt 2 nur kopf vv~1

Man hat eine Besetzung von russischen (oder slawischen) Sängern engagiert, die hier unbekannt sind, aber umso dichter wirkten. Beeinträchtig wurden die Leistungen von – man muss es immer wieder sagen – der technischen Anlage im MuseumsQuartier, die alles scharf und blechern klingen lässt.

Geschickt ausstaffiert mit weißer Hose, hellem Mantel und einer großen hellen Reisetasche, die er immer eng an sich drückt, ist Dmitry Golovnin ein faszinierender Myschkin, naiv lächelnd in die Welt sehend, meist gar nicht begreifend, was da geschieht, mit durchdringendem Tenor seine Verzweiflung kund tuend.

Die beiden Frauen wetteifern in Stimme und Persönlichkeit – Ekaterina Sannikova als hoch attraktive, mit starkem Sopran meist messerscharfe Nastassja und Ieva Prudnikovaitė als Aglaja, die in einer kurzen Szene (als sie ein Gedicht singt) hören lässt, wie angenehm ihr Mezzo klingt, wenn sie nicht zum Forcieren gezwungen ist.

Alle anderen sind an den Rand des Geschehens gedrängt, auch der kraftvolle Bariton des Dmitry Cheblykov als unglückseliger Rogoschin und der charaktervolle Bariton des Petr Sokolov als Lebedjew. Neben Mihails Culpajevs (Ganja) und Alexey Dedov (Totzki) machen noch zwei Damen kurz auf sich aufmerksam, Ksenia Vyaznikova und Tatjana Schneider als Mutter und  Schwester von Aglaja (da ist das Interesse am Vermögen des Fürsten Myschkin größer als die Frage nach seinem seltsamen Charakter).

Nach dreidreiviertel Stunden hatte das Premierenpublikum noch die Kraft für herzliche, wenn auch nicht wirklich stürmische „Bravo“-Rufe. Einen Extra-Applaus erhielt das RSO, dem gelungen ist, was die Wiener Zeitung (zur ewigen Schande des Republik) nicht geschafft hat: Es hat überlebt.

Renate Wagner

 

Diese Seite drucken