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WIEN / MusikTheater an der Wien: ALICE IN WONDERLAND

Alice! Wer bist Du?

01 alice (c) matthias cc baus 4~1
Fotos: Matthias Baus 

WIEN / MusikTheater an der Wien:
ALICE IN WONDERLAND von Unsuk Chin
Österreichische Erstaufführung
In englischer Sprache mit Übertiteln
Premier: 17. November 2025

Alice! Wer bist Du?

Wenn man Alice kennenlernt, jene Alice auf der Bühne des MusikTheaters an der Wien, dann trägt sie ein Kleid, auf dem steht: „I am who?“ Eine berechtigte Frage, Denn die „Alice in Wonderland“-Oper der Koreanerin Unsuk Chin scheint nicht wirklich viel mit der berühmten Vorlage von Lewis Carroll, dem geradezu legendären  Kinderbuch, zu tun zu haben, so hintersinnig es auch ist. Im Wunderland lässt sie Frau Chin sicher nicht landen, in einer Art Anderswelt voll bedrohlicher Gestalten  jedoch schon.

Die Oper wurde 2007 in München uraufgeführt, und der damalige Regisseur Achim Freyer machte eine – übrigens sehr eindrucksvolle – Puppentheater-Grottenbahn daraus. (Man kann die Aufzeichnung dieser Uraufführungs-Produktion komplett auf YouTube ansehen.) Damals hat, wie man hört, ein Teil der Zuschauer das Weite gesucht, und ein Teil der Presse sprach von einem „Meisterwerk“, Eine zwiespältige Reaktion, die sich nun, achtzehn Jahre später, bei der Österreichischen Erstaufführung zumindest in einer Hinsicht nicht wiederholte: Das Publikum harrte bis zum Ende aus, immerhin fast drei Stunden lang, und klatschte widerspruchslos brav, auch der zierlichen Komponistin.

Unsuk Chin, gebürtige Koreanerin, die heute in Berlin lebt und eine zeitlang bei György Ligeti studiert hat (was man zu hören meint), ist in der Welt der modernen Musik bekannt und erfolgreich. Nichts macht jedoch populärer als Opern, während die Ereignisse im Konzertsaal zu beschränkten Daten ja nur ein mengenmäßig eingeschränktes Publikum finden. Mit „Alice“ war Unsuk Chin in aller Munde, weil sie zweifellos eine absichtsvoll herausfordernde Komponistin ist.

Sie arbeitet mit Geräuschen, sie scheut sich nicht, gegebenenfalls einfach „Lärm“ zu erzeugen, wobei der virtuose Einsatz von Instrumenten ganz klar wird, und wer meinen wollte, Thomas Ades habe mit der Rolle des Ariel in seiner „Tempest“-Oper die Anforderungen an Frauenstimmen ausgereizt, möge sich von Chin eines Besseren belehren lassen: Sie hetzt Frauenstimmen in solche Höhen, und das lange und nachdrücklich, dass der Eindruck der Ohrenfolter sich nicht vermeiden lässt – für das Publikum, nicht nur für die arme Alice auf der Bühne.

Dabei gibt es neben viel Dissonantem auch Passagen von stimmungs-flirrender quasi „konventioneller“ Musik mit Zitaten aus verschiedenen Epochen, die beweisen, wie gut die Komponistin ihr Handwerk gelernt hat. Zudem wechseln Stile und Stimmungen in oft atemberaubender Geschwindigkeit, überraschen Instrumente mit großen Solo-Aufgaben, so mixt sich Magisches mit Schockhaftem für das Hörerlebnis. Bloß – alles ein bißchen sprunghaft, ein bißchen künstlich, ein bißchen affektiert.

Das Libretto von David Henry Hwang hat Elisabeth Stöppler, die Regisseurin der Wiener Aufführung, offenbar dazu inspiriert, die Geschichte als große Selbstsuche (und Selbstfindung?) von Alice, der auch noch ihr eigenes Kinder-Ich beigegeben wird, zu interpretieren. In einem Bühnenbild von Valentin Köhler begibt sich das Geschehen bis zur Pause auf der Drehbühne zwischen grasbewachsenen Hügeln mit Kaninchenlöchern. Elemente heben und senken sich (auch eine Akrobatin wird von oben herunter gelassen), und auch wenn die Bühne nach der Pause scheinbar leer ist, ergeben sich komplexe Bilder in wilder Aktion, vor allem um die Herzkönigin. Der belehrende Charakter des seelisch durch und durch düster gezeichneten Geschehens verzichtet nicht auf belehrende Laufbilder, die dem Publikum sagen, was es gerade denken soll…

02 alice © matthias baus 17~1

Großen Anteil an der Lebendigkeit des Bühnengeschehens haben auch die Kostüme von Su Sigmund, die manches aus dem Personal des Buches andeuten (etwa das Kaninchen oder den Hutmacher), aber eigentlich wirken, als seien sie einer englischen Operetta im Stil von Gilbert & Sullivan entwichen. Folglich ist das Geschehen, selbst wenn man das Buch gut kennt, nicht immer im Detail nachzuvollziehen, wenn es sich nicht um so unverwechselbare Figuren wie die Herzkönigin handelt.

Diese wurde in München einst von Gwyneth Jones verkörpert, und Sally Matthews war damals die Alice. Eine solche Weltrang-Besetzung konnte das Musiktheater an der Wien nicht aufbieten, hatte aber in Álfheiður Erla Guðmundsdóttir eine eindrucksvolle Alice, die von einer spielfreudigen Schar umgeben war – Herzkönigin Mandy Fredrich, Grinsekatze Juliana Zara, Herzogin Helena Rasker und eine Herrenriege voll Ambition, Andrew Watts, Marcel Beekman, Henry Neill, Levente Páll, Damien Pass. Wie immer durfte der Arnold Schoenberg Chor zeigen, was er alles kann.

Und das ORF Radio Symphonie Orchester Wien bewies, dass seine Rettung mehr als gerechtfertigt gewesen war, denn man meisterte unter der Stabführung von Stephan Zilias die nicht alltägliche Aufgabe dieser extrem schwierigen Partitur virtuos.

Es war ein Erfolg, aber war es Alice? Oder einfach ein bunter Abend mit interessanter, vielleicht auch auf „interessant“ berechneter Musik, die stellenweise die Nerven schwer beanspruchte? Das muss jeder für sich entscheiden. Wer „Alice im Wunderland“ so sehen will, dass er es versteht, ist mit dem Ballett besser beraten. Aber schließlich läuft der Abend unter „Wien modern“, also wird er sein richtiges Publikum finden.

Renate Wagner

 

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