WIEN, LONDON / Royal Opera House Covent Garden
Im Kino, UCI Vienna Millennium City Handelskai
FAUST von Charles Gounod
30.April 2019
Gleich zu Beginn ehrlich gesagt: Eigentlich war man vor allem auf die erste Marguerite der Diana Damrau neugierig – schließlich ist sie eine Sängerin mit besonderer Stimme, besonderer Virtuosität, besonderem Einsatz (man denke nur an ihre hinreißende Juliette an der Met). Aber mit einem Bandscheibenvorfall (das ist es wohl, was die englische Presse unter Slipped Disc als Absage-Grund vermeldete) kann man nicht singen, und so kam die Damrau um ein optimales Ambiente, in dieser Rolle, die ihr so gut in der Kehle liegen müsste, zu debutieren.
Denn die alte Inszenierung von David McVicar gibt dem Theater, was des Theaters ist, statt das Publikum mit Kopfgebilden zu quälen. Die „Faust“-Handlung spielt dennoch in einer Art Theaterwelt, in der Üppigkeit der Belle Epoque (in die Gounods Oper, 1859 uraufgeführt, schon hineinragt), mit unverschämten Ideen, etwa die Szene rund um den „Mephisto“-Walzer in einem Nachtclub „L’enfer“ spielen zu lassen und die Choreographie – Michael Keegan-Dolan – dem CanCan anzunähern. Ähnlich krass-unverschämt ist die Walpurgisnacht gehalten, ein Alptraum des Faust (dem man kurz davor zugesehen hat, wie er sich eine Spritze setzt – da ist er schon ziemlich abgewrackt), dem ein grotesk-hässliches, schwangeres Marguerite-Zerrbild vor der Nase herumtanzt… Ähnlich exzessiv die Volksszenen (der Royal Opera Chorus ist hochrangig), die schaurige Horror-Movie-Szene in der Kirche, wie überhaupt Religiöses einen starken Stellenwert hat, und nur etwas Ruhe in der Liebesszene (wenn auch da, wie vorgesehen, eine exzentrische Marthe mit Mephisto stört).
Dass das Ganze Show-Charakter hat, zumal durch die Ausstattung von Charles Edwards (Szene) und Brigitte Reiffenstuel (Kostüme), korrespondiert voll mit Gounods Effektmusik, die man in London keinem Franzosen, sondern dem kraftvoll zugreifenden, dabei ungemein elastisch agierenden Dan Ettinger anvertraut hat. Solcherart gewinnt der Abend einen ungewöhnlichen Drive, der bis zum triumphalen Finale durchgehalten wird (und das bei dreieinhalb Stunden Spieldauer).
Ein Glücksfall war die Besetzung – es ist ideal, wenn Sänger im richtigen Alter die richtigen Rollen singen, wenn Stimme und Erfahrung, Technik und Können so richtig „sitzen“. Wir haben Ewin Schrott schon 2011 in Wien als Méphistophélès gesehen, aber er konnte (auch infolge der Wiener Nicht-Inszenierung) damals noch bei weitem nicht diese Wirkung erzielen wie nun in London. Hier bekommt er nicht nur in jeder Szene ein anderes Kostüm, ob Gentleman der galanten Epoche, ob im Frack, ob als Soldat bei Marthe oder als Guru-Erscheinung, wenn er die Seelenqualen der armen Marguerite geradezu folternd verstärkt, ob als groteske Drag Queen in der Walpurgisnacht oder als eine Art Flaneur im Finale, wo er selbst nicht weiß, ob er das Spiel nicht vielleicht doch verloren hat… Man kennt die sprühende Theaterpersönlichkeit von Schrott, der hier alle Nuancen von Boshaftigkeit bis Bösartigkeit ausspielen kann, und er singt mit unerschöpflicher Kraft, ohne durchwegs stimmlich „brutal“ zu agieren – nur dort, wo es der Komponist vorsieht. Das ist (neben dem Scarpia) wohl derzeit seine ideale Rolle.
Auch Michael Fabiano hört sich für den Faust vorzüglich an, ein kraftvoller Tenor, der losschmettert und doch über alle Nuancen verfügt, inklusive der angesetzten Falsett-Töne. Er ist höchst eindrucksvoll als wankender Greis mit zitternden Händen zu Beginn (und dann kurz wieder am Ende), so dass man sich darstellerisch im Ganzen mehr erwartet hätte. Dazwischen allerdings benimmt er sich wie ein gestriger Tenor, steht herum und singt schön.

A scene from Faust by Gounod @ Royal Opera House. Directed by David McVicar. Conductor, Dan Ettinger. (Opening 11-04-19)
Irina Lungu hätte ein paar Vorstellungen nach der Damrau hinterher singen dürfen. Sie nützte die Chance und machte sich selbst zu einer ersten Wahl. An sich hat die sympathische Russin keinerlei Glamour-Charakter, aber das kommt dem blonden Gretchen im braven Kleidchen (die in ihrer ersten Szene nicht ganz logisch als Kellnerin agiert…) im Grunde zugute. Es ist bemerkenswert, wie sie die Stufen der Rolle erklimmt, die Entwicklung zeigt, die Sehnsucht, die durch den Schmuck hervorgerufen wird, die Liebe, der sie sich nach glaubhaftem Zögern hingibt, die Verzweiflung der schwangeren Verlassenen – und am Ende eigentlich nicht der Wahnsinn: Diese Frau im Gefängnis versteht, was vorgeht, und sie ruft die Engel gegen Méphistophélès mit ergreifender Stärke und Überzeugungskraft an. Gesanglich makellos und nie überanstrengt, war sie eine Marguerite, die keine Sehnsucht nach einer anderen aufkommen ließ.
In den Nebenrollen sympathisch Marta Fontanals-Simmons als Siebel, witzig-schrill Carole Wilson als Marthe und schließlich der einzige Franzose weit und breit, Stéphane Degout als Valentin (der später auch als blutiger Zombie durch die Walpurgisnacht geistert): Seine Stimme ist von bekannter Trockenheit, aber gewaltige Intensität wird ihm keiner absprechen.
Eine Intensität, die auch dem ganzen Abend innewohnte, der vom Londoner Publikum nicht erst am Ende, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit schon während der Vorstellung bejubelt wurde. Durchaus zurecht – kamen doch Gounod und jeder einzelne Sänger in dieser Produktion zu optimaler Wirkung.
Renate Wagner