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WIEN / L.E.O.: Musical HENRY – MANN IN WEISS in Kurzfassung

Ein Musical im Testbetrieb - durchaus mit guten Erfolgsaussichten

13.05.2024 | Allgemein, Operette/Musical
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Thomas Reisinger (Henry Dunant) und Ensemble. Alle (Handy-)Fotos: Martina Schmid-Kammerlander

WIEN / L.E.O.: Musical HENRY – MANN IN WEISS

12. Mai 2024

Von Manfred A. Schmid

Im Mittelpunkt des Musicals des österreichischen Komponisten Michael Siskov, das derzeit in einer eingekürzten Fassung im L.E.O., dem Letzten Erfreulichen Operntheater Wiens, zu sehen und zu hören ist, steht das spannungsgeladenen Leben des Schweizer Geschäftsmannes und Humanisten Henri Dunant (1828 -1910), der als Gründer des Roten Kreuzes unsterblich geworden ist. Der Titel Henry – Mann in Weiß wurde offenbar schon mit Blick auf eine internationale Vermarktung gewählt, für die sich der englische Vorname Henry jedenfalls besser eignet als die französische Bezeichnung Henri. Die Chancen stehen gut, dass dieses Musical, das bereits im Vorjahr, nach jahrelanger Ausarbeitung und Perfektionierung, in einem „Workshop“ im L.E.O einer ersten Bewährungsprobe unterzogen worden war, tatsächlich bald auf einer großen Bühne zu sehen sein könnte. Denn Henry hat alles, was ein erfolgreiches Musical ausmacht: Eine fesselnde Geschichte über einen Helden, der zwar Schwächen und Fehler hat, mit seinem unbeirrten Einsatz für sein humanistisches Projekt aber nicht nur mit dem ersten Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird, sondern weltweit bis heute gerühmt und geachtet wird. Dass er dabei auch schwere Rückschläge erleidenden muss, geschäftlich ruiniert wird und jahrzehnterlang vergessen und verarmt dahinvegetiert, dann aber wiederentdeckt und gefeiert wird, macht die Story (Idee und Entwurf Elisabeth Beuer) nur umso interessanter. Es gibt auch den unerlässlichen unerbittlichen Bösewicht als Gegner, der seinen ursprünglichen Partner aus Neid und Eifersucht um den Ruhm bekämpft und ihm das Leben schwer macht. Diesen Gustave Moynier hat es wirklich geben, er zählte zu den ersten, die sich für Dunants Idee engagiert hatten, erwarb sich Verdienste bei der Ausarbeitung der Genfer Konvention und war bald oft anderer Meinung als Dunant. Es gehört aber zur Freiheit der Kunst, geschichtliche Gegebenheiten dramatisch zu anzupassen und zuzuspitzen (Dramaturgie Michael Siskov, Christian Lusser). Um tatsächlich zu funktionieren, bedarf es natürlich auch einer gut erfundenen Liebesgeschichte. Die Einführung der der ihm treu ergebenen Vittoria gibt Anlass zu einem mitreißenden Liebesduett, das eines der besten Nummern des Musicals ist. Auch der erst am Schluss in einer überraschenden Deutung sichtbare tragische Ausgang dieser Beziehung ist eine tolle, weil verblüffende und ungeahnte Erfindung. Unerlässlich ist auch der effektvolle Einsatz von Massenszenen, und auch dafür stellt die Handlung viele Möglichkeiten parat: Von den hungernden Armen in Genf, die von Henrys Eltern (Elena Schreiber und Alexander Lang) verköstigt werden, über die Soldatenaufmärsche und die Verwundeten im Krieg von Solferino bis zu den Menschen, die ihn bei seiner geschäftlichen Pleite kritisieren und verhöhnen, um ihn später dann wieder hochleben zu lassen.

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Thomas Reisinger (Henry) und Jassmin Bilek (Vittoria Bondoni)

Dieses Musical hat, wie es scheint, alle Vorzüge eines well made plays, was natürlich noch keine Garantie für einen Hit ist, die Wahrscheinlichkeit dafür aber doch sehr hoch schnellen lässt. Was dazu noch fehlt und noch nicht zur Sprache gekommen ist, ist die Musik. Doch auch da beweist Michael Siskov, von dem übrigens auch die Texte stammen, sehr viel Können und Geschick, sowohl in den Songs wie auch in den Interventionen des oft zum Einsatz kommenden Chores. Die Musik geht direkt ins Ohr und ins Gemüt, und manches, wie etwa das bereits erwähnte Liebesduett, hat durchaus Ohrwurm-Potenzial. Und das, obwohl in der dargebotenen Version der süffig-rauschende Klang der Orchestrierung noch fehlt und vom Komponisten am Klavier – immerhin höchst effektvoll – ersetzt werden muss. Da das Musical in der L.E.O.-Version um rund eine Stunde gekürzt ist, kann die Partitur noch jede Menge Überraschungen parat haben. Nicht wirklich überzeugend ist der musikalisch schaurig-opernhafte Auftritt von Gustave Moynier, was nicht am Bassisten Max Sahlinger liegt, der diese Passagen mit mächtiger Stimme zum Besten gibt. Dieser Einschub wirkt wie ein Fremdkörper in der ansonsten so genre-gerechten Umsetzung. Eine Umarbeitung würde vielleicht auch dem melodiös etwas simplen Schlusschor nicht schaden, und in Zeiten, wo sogar schon bei der Österreichischen Bundeshymne nicht mehr von Brüdern allein gesungen werden soll, wäre eventuell zu überlegen, ob neben „tutti fratelli“ nicht auch die „sorelle“ zu nennen wären. Schillers in den letzten Tagen so oft gehörte „Alle Menschen werden Brüder“ in Beethovens Europahymne sollte nicht als Ausrede gelten, ist ja bekanntlich eben 200 Jahre alt geworden …

Der Aufführung gelingt es, die Tauglichkeit dieses Musicals auch auf einer sehr kleinen Bühne unter Beweis zu stellen und lässt erahnen, wie gut das alles erst auf einer großen Bühne zur Geltung kommen würde. Die Inszenierung von Christian Lusser ist tatsächlich staunenswert. Wie er in den Szenen mit dem achtköpfigen Chor und Tanzensemble die räumliche Enge nützt, ja, diese geradezu überlistet und überwindet, ist fabelhaft. Dass da, inklusive des Mannes am Klavier, manchmal bis zu 15 Personen auf der Bühne und dem schmalen Gang davor stehen und sich bewegen, ist gewiss auch das Verdienst der kreativ-kompetenten Choreografie (Erwin Johann Hoyer) sowie des Dance Captains Manuel Dreger. Und zuweilen gibt es sogar noch Platz für – hier gewissermaßen als Pointen eingesetzte – Requisiten wie die Kutsche, in der Henry zum Hotel angereist kommt, in dem er zum ersten Mal auf Vittoria trifft (Requisiten Elisabeth Breuer).

Der Tenor Thomas Reisinger ist eine ausgezeichnete Besetzung für die Rolle des Henry Dunant, den er sowohl als Träumer wie auch als einen Mann mit eisernem Durchsetzungswillen und pragmatischem Sinn darstellt.

Jasmin Bilek als Vittoria Bondini verströmt Anmut und treue Ergebenheit. Eigenschaften, die im 19.  Jahrhundert wohl das Idealbild einer Frau ausmachten. 

Maximilian von Lütgendorff hat als Mediziner Hermann Altherr in der gekürzten Fassung wenig zu singen, ist aber als Chronist, der immer wieder in Erscheinung tritt, um für das Publikum die gestrichenen Passagen des Stücks zusammenzufassen, eine wichtige Figur.

Max Sahliger als Gustave Moynier wurde bereits entsprechend gewürdigt. L.E.O.-Hausherr Stefan Fleischhacker hat einen fulminanten Auftritt als Nick, Henrys betrügerischer Geschäftspartner, der sich in seinem in einem Stepptanz mündenden Song triumphierend darüber auslässt, wie es ihm gelungen ist, Henry auszunützen und ins Verderben zu stürzen.

Aufführungen gibt es noch am 15. und 22. Mai. Ein Besuch kann sehr empfohlen werden. Gut möglich, dass man einmal davon  erzählen wird können, bei den Geburtsvorbereitungen eines erfolgreichen Musicals dabeigewesen zu sein …

 

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