WIEN / Kammerspiele der Josefstadt:
DIE ZIEGE ODER WER IST SYLVIA? von Edward Albee
Premiere: 3. September 2022,
besucht wurde die zweite Vorstellung am 4. September 2022 nachmittags
Edward Albee (1928-2016) hat dem Theaterpublikum schon einiges zugemutet, man denke nur daran, wie er in seinem berühmtesten Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf!“ seine vier Protagonisten in Stücke legt, dass kaum etwas von ihnen übrig bleibt. Aber da bewegt er sich dennoch auf „menschlicher“ Ebene. In einem seiner späten Stücke ging er noch weiter, kalkulierte die Provokation angesichts des Themas „Sodomie“ ein.
Dabei hat Wien für „Die Ziege oder Wer ist Sylvia?“, 2002 in New York uraufgeführt, eine besondere Tradition: Vienna’s English Theatre brachte 2003 die europäische Premiere heraus, und am Akademietheater fand 2004 die deutschsprachige Erstaufführung statt (Andrea Breth / Peter Simonischek, Corinna Kirchhoff). Die Scala zeigte das Stück 2013, und nun ist es in den Josefstädter Kammerspielen gelandet, die bekanntlich schon lange kein Lachtheater mehr sind. Aber für Stücke mit Virtuosenrollen eignet sich der Raum sehr gut.
Wer ist Sylvia? Wäre sie blond und kurvenreich, jedermann (auch eine zähneknirschende Ehefrau) würde den Seitensprung von Martin, dem erfolgreichen Architekten, an sich glücklich verheiratet, hinnehmen. Dass er sich in seinem Gefühlshaushalt so weit verirrt hat, sich in die tiefen Augen einer Ziege so zu verlieben, dass er diese plötzliche Leidenschaft auch sexuell ausleben muss – starker Tobak, auch heute noch, wo uns doch angeblich gar nichts mehr schockiert. Aber Sodomie ist eben ein Grenzbereich, vor allem, da er in dem, was man als „abweichendes Verhalten“ empfindet, keine übergroße Rolle spielt.
Was versucht Albee nun in einem Dreiakter (in den Kammerspielen pausenlose eindreiviertel Stunden)? Erstens muss Martin Gray versuchen, seiner Mitwelt und dem Theaterpublikum klar zu machen, wie ein solches Gefühl von Liebe einem Tier gegenüber plötzlich erwachen und so stark sein kann, dass er nicht dagegen ankam.
Konfrontiert werden mit dem Problem drei Menschen – sein Freund, der Journalist Ross, der einfach fassungs- und verständnislos ist, die Ehefrau, die dermaßen den Boden unter den Füßen hinweggezogen bekommt, dass sie nur noch toben kann, und der 17jährige Sohn, der seinerseits schwul ist und in eine solche Verwirrung der Gefühle hineingezogen wird, dass er sich sogar dem Vater sexuell nähert… Heikel.
Zweifellos will Albee nicht der Sodomie per se das Wort reden, nur einem breiteren Verständnis für individuelle Bedürfnisse, die in diesem Fall dermaßen mit den Vorstellungen der Gesellschaft zusammen stoßen, dass das Ende nur Gewalt sein kann. Albee spielt (u.a. mit Erwähnung der Erinnyen) sogar auf die griechische Tragödie an…
So weit geht die Inszenierung von Elmar Goerden in den Kammerspielen nicht, die in einem programmatisch blendend weißen Bühnenbild (Silvia Merlo /Ulf Stengl) spielt, elegante heile Welt, die nach und nach durch die Wut der Ehefrau zerstört wird. Zwischen Boulevard und Tragödie schwankt das Schiff gelegentlich. Dafür, dass einem die Geschichte nicht mehr besonders spannend vorkommt, weil man sie zu oft gesehen hat, kann die Regie nichts.
Martin Gray sollte an sich seinen 50. Geburtstag feiern, passend zu Hauptdarsteller Joseph Lorenz hat man das Alter auf 60 hinaufgesetzt (und der Sohn ist wohl auch keine 17 mehr). Lorenz muss das Unsagbare, das Unerklärliche zu formulieren suchen und gleichzeitig den Mut aufbringen, zu seinen Gefühlen zu stehen. Eine Parforcetour, die nur durch diejenige von Sandra Cervik übertroffen wird. Zugegeben, in ihrem Fall baut Albee viel Pathos ein, aber die Darstellerin spielt furios darüber hinweg und sorgt auch für Pointen, bis am Schluß dann die Tragödie nicht mehr aufzuhalten ist.
Michael Dangl, bärtig kaum zu erkennen, als der Freund und Julian Valerio Rehrl, ganz Komplexe, ergänzen.
Am Ende bleibt die Ratlosigkeit. Sollen wird Verständnis für Sodomie aufbringen? Vielleicht nur dafür, dass jeder Mensch eine Welt für sich ist – und seine Gefühlswelt desgleichen. Und dass der Autor hier (wenn es nicht gerade um Päderasten geht, da ist der Ofen aus) austestet, wie es um unsere Toleranz bestellt ist. Fragen Sie sich einmal, hat Albee geraten, was Sie täten, wenn Sie mit einer solchen Situation konfrontiert wären…
Renate Wagner