WIEN / Kammerspiele: der Josefstadt:
DIE MÖWE von Anton Tschechow
Premiere: 28. März 2024,
besucht wurde die Generalprobe
Nur ganz gewöhnliche Leute
Es war nicht als Co-Produktion angekündigt, aber wohl als solche gedacht, als Maria Happel 2023 in Reichenau Anton Tschechows „Die Möwe“ in einer dermaßen Josefstädtischen Besetzung spielte, dass für die „Übernahme“ in die Kammerspiele nun nur zwei kleine Rollen umbesetzt werden mussten. Martin Schwab, Reichenau-Urgestein und Burgtheater-Urgestein, kann man sich in aller Freundschaft schon ausborgen, und so sieht Wien angesichts eines der berühmtesten Tschechow-Stücke nun das, was im Vorjahr in der Sommerfrische nur verhalten aufgenommen worden ist,
Dass Regisseur Torsten Fischer sich nicht nachsagen lassen will, Tschechow klassisch „vom Blatt“ zu spielen, versteht man, die Kritik würde ihn dafür ja durch die Hölle jagen. Wenn er nun dramaturgisch scharf auf das Stück losgeht, es in die Gegenwart versetzt (der Dichter Trigorin notiert nichts mehr zwanghaft in seinem Notizbuch, sondern hat natürlich den Laptop dabei), verändert er die gesamte Struktur. Sieht man hier eine ganz, ganz große Schauspielerin? Einen wirklich sehr berühmter Dichter? Zwei junge Leute, in denen sich der ganze Zauber, die ganze Hoffnung der Jugend spiegelt? Die gibt es nicht mehr. In dieser Inszenierung sind sie ganz gewöhnliche Leute. Und als solche nicht besonders interessant.
Dazu muss es natürlich die zeitgemäße Zusatz-Weisheit geben, etwa düstere Prophezeiung und politische Korrektheit zugleich, wenn ein Dritter Weltkrieg vorausgesagt wird, „und diesmal hat Rußland ihn begonnen“. Das Adorno-Wort, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, wird gleichfalls in den Text hinein gepresst. Und wenn es um den Gegensatz von konservativ und progressiv geht, wie er sich in der Schauspielerin Arkadina und ihrem Sohn Konstantin manifestiert, wirft der Sohn der Mutter sogar das schreckliche Modewort vom „Paradigmenwechsel“ ins Gesicht. Also, Tschechow modisch aufgeputzt, zeitgeistig zurecht gebogen, als ob er das nötig hätte.
Foto: Theater in der Josefstadt
Gespielt wird auf im wesentlichen leeren Bühne (Ausstattung wie immer bei Regisseur Torsten Fischer: Vasilis Triantafillopoulos und Herbert Schäfer) vor einer Videowand, die den See zeigt, an dem das Landgut der Arkadina liegt. Eine zusammenhängende Geschichte wie bei Tschechow wird nicht mehr erzählt, es werden einzelne Szenen herausgebrochen. Das hat einen geringen Vorteil für die Nebenfiguren, die sonst möglicherweise von der zentralen Geschichte „geschluckt“ werden. Hier stehen sie immer wieder, wenn auch nur kurz, im Mittelpunkt.
Der Bruder der Arkadina, der sich ein Leben voll Literatur und Liebe erträumt hat und in Amtstuben innerlich vertrocknet ist (Martin Schwab, wenn auch viel zu alt hier im Vergleich zu seiner Schwester). Der Arzt, der, wie es diese Figuren bei Tschechow meist tun, einfach nur resigniert – und nebenbei, ohne viel Anteilnahme, die Damen pflückt, die seines Weges kommen (Günter Franzmeier, der größte Gewinn für die Josefstadt seit langem). Seine Geliebte, die liebeshungrige Gattin des Verwalters (Alexandra Krismer), der zwar ein dummer Mensch ist, sich aber seiner Macht im Gefüge des Anwesens bewusst (Markus Kofler), Dessen Tochter Mascha war schon immer die interessanteste Nebenrolle des Stücks – Johanna Mahaffy mag die Verzweiflung übertreiben, bringt aber viel von dem traurigen Nihilismus der Figur, während Jakob Elsenwenger als ihr Gatte wenig aus seiner Rolle macht.
Sie alle sind aber letztlich nur Staffage für das Künstlerdrama über Dichter und Schauspielerinnen. In diesem, einem der berühmtesten Stücke der russischen Literatur, hat man es an sich mit den denkbar interessantesten Figuren zu tun. Doch, wie bereits erwähnt, nicht hier. Die Schauspielerin Arkadina, ihr Liebhaber, der Dichter Trigorin, Arkadinas Sohn Konstantin und dessen Geliebte Nina ergeben im Original ein magisches Quartett. Doch man glaubt Sandra Cervik nicht den großen Star mit seinen tausend Nuancen. Ebenso wenig dem Trigorin in Gestalt von Claudius von Stolzmann die große, erschreckend vielschichtige Persönlichkeit. Und Nils Arztmann und Paula Nocker sind jung und nichts weiter.
Damit wird das, was einmal ein ganz großes Stück war, vielleicht heutig, aber doch erschütternd herunter nivelliert. Das Publikum wirkte gewissermaßen – enttäuscht. Mit Recht. Wenn man dem Tschechow den Tschechow weg inszeniert, was bleibt dann?
Renate Wagner